Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Schwachköpfen wie diesem Banner vergeuden?« Er wirkte ehrlich besorgt.
Ich senkte den Blick und nestelte an einer Kante der Präsentationsmappe herum. »Schauen Sie, ich bin aus Wisconsin. Eine typische Vorstädterin. Ich bin weg von dort, um etwas aus mir zu machen. Also erschien mir die Wall Street als der geeignetste Ort, um damit anzufangen. Dort, wo etwas los ist.«
»Aus Wisconsin«, wiederholte er. »Auf Wisconsin wäre ich nie gekommen.«
»Wir klingen nicht alle, als wären wir einem Western entstiegen.«
»So habe ich es nicht gemeint. Ich …« Unvermittelt hielt er inne. »Jedenfalls habe ich nie Wirtschaft studiert«, fuhr er fort. »Und es hat mir nicht geschadet.«
»Schon, aber Sie sind …« Ich schwenkte die Hand in seine Richtung.
Irgendwo hinter uns läutete ein Telefon. Vermutlich in der Bibliothek.
»Was bin ich?«, hakte er nach.
»Wollen Sie nicht rangehen?«
»Das kann warten. Beantworten Sie die Frage.«
»Ich kann nicht antworten, wenn ich Telefongeklingel im Ohr habe.«
Seufzend stand er auf. Als ich hörte, wie sich seine Schritte hinter dem Sofa entfernten, holte ich tief Luft. Ich glaubte nicht, dass ich das noch lange aushalten würde. All meine hehren Grundsätze hatten sich schlagartig in Luft aufgelöst. Gerade als ich sie am meisten gebraucht hätte. Gerade als ich im Begriff war, in genau die Situation hineinzustolpern, die ich unbedingt vermeiden wollte. Denn Julian Laurence – der wunderschöne, geniale, löwenähnliche Julian – hätte mich zum Frühstück fressen oder mein Herz verschlingen und damit auf Nimmerwiedersehen verschwinden können. Und ich bezweifelte, dass ich die Willenskraft besitzen würde, um ihn daran zu hindern.
Das Läuten verstummte, und seine leise, melodische Stimme wehte durch die Räume. Ruhelos erhob ich mich und schlenderte zu einem der zu beiden Seiten des Kamins eingebauten Bücherregale. Geistesabwesend strich ich mit dem Finger über die Buchrücken. Eine breite Palette, wie ich schmunzelnd feststellte; die Auswahl reichte von Dean Koontz und Winston Churchill zu Vergil im lateinischen Original. Es ging doch nichts über eine britische Internatserziehung.
Die Bücher standen dicht an dicht; genau genommen war überhaupt kein Platz für etwas anderes als Bücher. Keine Fotos, keine Dekorationsobjekte, kein überflüssiger Krimskrams. Eigentlich gar nichts Persönliches, wenn man die Lektüregewohnheiten eines Mannes nicht als die persönlichste Angelegenheit von allen betrachtete.
»Ich stelle fest, dass Sie mir nachspionieren.« Julians Stimme war viel zu nah.
Ich machte einen Satz. »Hoppla! Wollen Sie mich umbringen?« Ich wies mit dem Kopf auf die Regale. »Können Sie wirklich Latein lesen?«
»Heutzutage keine sehr nützliche Fähigkeit, was?«
»Es muss nicht immer alles nützlich sein. Ich nehme an, Sie haben es in der Schule gelernt?«
»Ja, eine altmodische Schulbildung.« Schwang da ein Hauch von Bedauern in seiner Stimme mit?
Ich drehte mich um und musterte ihn. Sein Gesicht hatte sich verändert und war auf seltsame Weise matter geworden – so als hätte er sämtliche überflüssigen Lichter ausgeschaltet. »Alles in Ordnung?«, erkundigte ich mich. »Ich meine, wegen des Anrufs?«
»Jaja, bestens.« Er verschränkte die Arme und lächelte ein wenig gezwungen. »Nur, dass ich morgen nach Boston fliegen muss.«
»An Weihnachten?«
»Pech. Ich weiß.«
»Sind Sie …« Ich schluckte. »Sind Sie zu Weihnachten denn nicht irgendwo eingeladen?«
»Ich gehe jedes Jahr zum Weihnachtsessen zu Geoff.« Er zuckte mit den Schultern. »Und natürlich in die Kirche.«
»Ihre Familie ist nicht …«
»… vorhanden«, beendete er den Satz für mich. »Keine Sorge, ich bin darüber hinweg, wie es so schön heißt. Haben Sie etwas gesehen, das Ihnen gefällt?« Als er mit dem Kopf nach oben wies, folgte ich seinem Blick.
»Ach du meine Güte«, sagte ich. »Patrick O’Brian. Sind das Erstausgaben?«
»Manchmal gönne ich mir den Luxus.« Er klang verlegen.
»Ich liebe O’Brian. Historische Romane im Allgemeinen. Im College haben mich meine Freundinnen immer deswegen aufgezogen. Alle anderen haben Frauenbücher gelesen. Shopaholic und so. Michelle findet, ich sei im falschen Jahrhundert geboren.« Ich lachte gekünstelt auf.
Er erwiderte nichts.
Als ich mich nach einer Weile umdrehte, machte er ein seltsames, gedankenverlorenes Gesicht. Die Fältchen um seine Augen waren tiefer geworden, sein Mund war zu
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