Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Normalerweise tue ich so etwas nicht mehr. Für mich ist es, offen gestanden, nur ein Gedankenspiel, doch ich habe mir überlegt … Lassen Sie mich …« Seine Stimme erstarb, und er blickte stirnrunzelnd auf den Bildschirm. Da er so in seine Betrachtung versunken war, wagte ich es, ihn eingehender zu mustern. Schamlos weidete ich mich an seinem Anblick und starrte auf sein markantes Kinn, die aristokratische Nase und die vollen, geschwungenen Lippen, alles erleuchtet vom Widerschein des Computerbildschirms. Seine Wangen hatten eine leicht rosige Färbung, die hoch oben an den Wangenknochen begann und in seinen winzigen Bartstoppeln auslief. Am liebsten hätte ich die Hand ausgestreckt, um ihn zu berühren.
»Schauen Sie mal kurz.« Er winkte mich zu sich. »Ich bin es so angegangen.«
Langsam, ja, beinahe wie in Trance erhob ich mich und näherte mich dem anderen Sofa. Er blickte nicht auf. »Sehen Sie.« Er wies auf den Bildschirm. »Finden Sie es so nicht einleuchtender? Kommen Sie, setzen Sie sich. Halten Sie mal kurz die Mappe. Wenn wir das vierte Jahr unter die Lupe nehmen …«
Vorsichtig ließ ich mich neben ihm auf dem Sofa nieder, wobei ich darauf achtete, ihm nicht zu nah zu kommen. Doch es war zwecklos. Ich konnte die Wärme spüren, die sein Körper abstrahlte, roch den sauberen Duft seiner Haut und hörte das leise Zischen seines Atems in der wenigen Luft zwischen uns. Immer noch streckte er mir die Mappe hin. Ich schloss die Finger darum und blätterte die ersten Seiten um.
»Moment«, sagte er. »Verzeihung.« Er griff über mich hinweg in die Schublade des Beistelltisches neben dem Sofa und holte einen Stift heraus. »Also«, fuhr er fort, nahm mir die Mappe ab und kritzelte etwas an den Rand. »Ich glaube, diese Voraussetzung müssen wir verschieben …«
»Sie sind Linkshänder«, murmelte ich. Eigentlich hatte ich geglaubt, es nur gedacht zu haben, aber offenbar hatte ich es laut ausgesprochen.
»Nein, rechts«, entgegnete er geistesabwesend und schloss die Augen. »Ich meine, ja, links.«
Ich lachte gekünstelt auf. »Jetzt bin ich verwirrt. Beidhändig?«
»Nein. Nur ein Nervenschaden vor ein paar Jahren. Ich musste lernen, mit links zu schreiben.«
»Oh, das tut mir leid«, erwiderte ich wenig originell und fügte nach einer Weile hinzu: »Waren das nicht Sie, der da eben Klavier gespielt hat?«
Er sah mich erst erstaunt, dann verlegen an. »Und ich war davon ausgegangen, dass die Wände schalldicht sind. Entschuldigen Sie.«
»Nein, es war wunderschön.«
»Es war erbärmlich. Aber um Ihre Frage zu beantworten, es schränkt meine Beweglichkeit nicht mehr so ein wie früher. Nur das Greifen tut noch weh.« Er hielt die rechte Hand hoch, um es mir zu zeigen.
»Oh. Wie ist das passiert?«
Er hielt inne; seine Wangen röteten sich noch mehr. »Autounfall.«
»O nein!«, rief ich unwillkürlich. Beinahe konnte ich das schreckliche Knirschen von Glas und Metall hören, und es gelang mir gerade noch, mich zu bremsen, bevor ich die Hand nach seiner ausstreckte.
»Ach, so schlimm war es nicht«, meinte er leichthin und wackelte mit den Fingern. »Immerhin ist noch alles dran.«
»Sie sollten vorsichtiger sein«, murmelte ich.
»Sie gehen davon aus, dass ich der Verursacher war?«
»Etwa nicht? Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie in Ihrem nagelneuen Porsche mit hundertfünfzig Sachen über den Freeway rasen, um Ihren ersten dicken Bonus zu feiern.«
»Hm.« Seine Miene wurde nachdenklich. »Und wofür haben Sie Ihren ersten Bonus ausgegeben?«
Ich lachte auf. »Ich bin nur Analystin, schon vergessen? Mein Anteil am Gemeinschaftstopf ist nicht der Rede wert. Ich glaube, beim letzten Mal habe ich mir ein Paar Schuhe gekauft und den Rest in meinen Bausparvertrag eingezahlt.«
»Bausparvertrag?« Er schien amüsiert.
»Meine Mitbewohnerin zerrt ein wenig an meinen Nerven«, erklärte ich. »Deshalb hätte ich gern eine Eigentumswohnung. Allerdings wird es bei diesem Tempo höchstens für einen Besenschrank in Washington Heights reichen. Darum möchte ich ja Wirtschaft studieren.«
»Wirtschaft studieren? Das ist doch sicherlich ein Scherz.«
»Nein, ich meine es ernst.« Ich runzelte die Stirn. »Warum sollte ich Scherze machen?«
»Weil Sie dafür viel zu gut sind. Oder wollen Sie tatsächlich Ihr Leben als Investmentbankerin fristen?«
»Warum nicht?«
»Das ist die falsche Frage. Nicht warum nicht, sondern eher warum? Weshalb wollen Sie Ihr Leben in der Gesellschaft von
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