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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatriz Williams
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essen«, wies er Julian an. »Und sich ausruhen.«
    »In Ordnung«, sagte Geoff Warwick auf Englisch mit einem Blick auf mich. »Wo wohnen Ihre Freunde in dieser Stadt?«
    »Nun«, begann ich, »ich fürchte, ich habe keine. Doch inzwischen fühle ich mich wieder recht gut. Es war nur die anstrengende Reise. Ich danke Ihnen beiden sehr für Ihre Hilfe. Dürfte ich, bevor ich mich verabschiede, noch unter vier Augen mit Captain Ashford sprechen?«
    Die Männer sahen einander an.
    »Ja, natürlich«, erwiderte Julian zögernd. »Vielleicht … Doch Sie müssen etwas essen …« Er drehte sich zu Warwick um. »Am besten gehe ich mit ihr ins Chat frühstücken. Inzwischen sollte es geöffnet sein.«
    »Ist das dein Ernst, Ashford? Wir wissen nicht, wer sie ist, sie könnte …«
    »Verzeihung.« Ich erhob mich so würdevoll wie möglich – gereckter Hals, gerader Rücken, gestraffte Schultern. »Ich würde nicht im Traum daran denken, Ihre Gastfreundschaft zu sehr zu strapazieren. Ich möchte nur ein kurzes Gespräch mit Captain Ashford führen, dann mache ich mich wieder auf den Weg.«
    »Warwick, du bist ein Idiot«, schimpfte Julian und sprang auf, sobald mein Hinterteil das Sofakissen verließ. »Sie ist eindeutig ein Mädchen aus gutem Hause. Der Krieg erlegt uns allen Prüfungen auf, weshalb ausgerechnet du wirklich ein wenig mehr Nächstenliebe an den Tag legen könntest. Ich werde jetzt dafür sorgen, dass sie ein anständiges Frühstück und eine ordentliche Unterkunft bekommt.«
    »Wirklich, Warwick«, mischte sich Hamilton endlich ein. Bis jetzt hatte er unbeteiligt dagestanden und dem Gespräch zugehört, während Regentropfen von seinem Mantel perlten. Seine Miene war vielleicht ein wenig zweifelnd, aber mitfühlend. »Ich kann keinen Grund für deinen Argwohn erkennen. Ashford möchte dem armen Mädchen doch nur helfen.« Er hatte einen nasalen Oberschichtakzent.
    »Also gut«, sagte Warwick zu Julian, wobei er tat, als wäre ich nicht vorhanden. »Vergiss nicht, dass wir um zehn mit McGregor und Collins verabredet sind.«
    »So lange wird es sicher nicht dauern.« Julian drehte sich zum Arzt um, der immer noch mit erwartungsvoller Miene dastand, und richtete mit leiser Stimme eine Frage an ihn.
    »Bitte«, meinte ich hastig und wollte nach meinem Mantel greifen. »So mittellos bin ich nun auch wieder nicht …«
    Aber Julian hatte dem Arzt schon etwas in die Hand gedrückt, nahm unsere Mäntel und schob mich, vorbei an Hamilton, der mir respektvoll Platz machte, zur Tür. Warwick bedachte mich mit einem giftigen Blick, den ich, ohne zu zögern, erwiderte. Nach drei Jahren an der Wall Street war ich Meisterin darin, andere niederzustarren.
    Geoffrey Warwick konnte mich eindeutig nicht leiden.
    Doch das war ja schon immer so gewesen.

3
    J ulians Stadthaus sah ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Auf dem gnadenlosen Regeln folgenden Immobilienmarkt von Manhattan kaufte man normalerweise das Teuerste, was man sich leisten konnte, so dass sich die architektonische Hierarchie nach der des Geldbeutels richtete. Demzufolge hätte das Zuhause eines legendären Investors von der Wall Street eigentlich die Krönung von allem sein müssen – eine perlweiße Villa an der Fifth Avenue vielleicht, mit einem Ballsaal und eigenem Dienstboteneingang. Oder ein oder zwei riesige Etagen in einem luxuriösen Gebäude an der Park Avenue.
    Doch das Haus war keines von beidem. Es stand völlig unauffällig zwischen Madison Avenue und Park Avenue in einer kleinen, von Bäumen gesäumten Straße und unterschied sich nicht von seinen Nachbarn rechts und links – etwa sieben Meter breit, schlichte und elegante Linien im griechischen Stil, halb mit Kalkstein, halb mit Backsteinen verblendet, der Eingang durch einige Stufen von der Straße abgesetzt. In den Türstock über der Tür war die Nummer 52 eingeschnitzt.
    Ich hob die Hand, um zu läuten, hielt aber inne. Durch die Wände glaubte ich den Klang eines Klaviers zu erkennen, eine langsame, verschnörkelte, ein wenig melancholische Melodie. Chopin? Ich schloss die Augen. In meiner Jugend hatte mein Vater viele Platten von Chopin auf dem alten Plattenspieler abgespielt, an dem er sehr hing. Ich hatte diese Musik schon seit Jahren nicht mehr gehört. Obwohl ich den Titel des Stücks nicht kannte, waren mir die Noten so vertraut wie mein Kinderzimmer.
    Auf dem Gehweg näherte sich schlurfenden Schrittes eine dunkel gekleidete Gestalt. Ich riss mich aus meinen

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