Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
reserviert immer einen Tisch, und Banner hat die Freude, zu bestimmen, wer von uns dabei sein darf.«
Ich schwieg einen Moment. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trog, war die letztjährige Gala Schauplatz von Julians einzigem öffentlichkeitswirksamem Auftritt gewesen. »Ich weiß nicht, ob ich etwas Passendes anzuziehen habe«, entgegnete ich zögernd.
»Dann gehen wir einkaufen. Sie können morgen nach der Mittagspause freinehmen.«
»Nun …«
»Ach, seien Sie kein Frosch. Es wird sicher ein Spaß. Und den könnten Sie gebrauchen. Deshalb habe ich Banner ja dazu gebracht, Sie auf die Liste zu setzen.«
»Nein, nein, ich freue mich darauf.« Wieder zwang ich mich zu einem Lächeln. »Seit dem Studentenball im ersten Jahr auf dem College habe ich kein Abendkleid mehr angehabt.«
Alicia erschauderte. »Puh. Dann müssen wir eindeutig einkaufen gehen.«
»Wer ist sonst noch dabei?«, erkundigte ich mich beiläufig.
»Tja, Banner natürlich. Ich. Zwei Vizedirektoren. Sie. Ein paar Kunden.«
»Sie sollten Charlie fragen. Er hat viel gearbeitet und sich einen netten Abend verdient.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und hob den Kaffeebecher an die Lippen. »Ja«, sagte sie nachdenklich. »Sie haben recht. Er könnte als Ihr Tischherr fungieren.«
»Wozu brauche ich einen Tischherrn?«
»Aber Kate, bei solchen Veranstaltungen wimmelt es von reichen Männern.« Sie zwinkerte. »Sie hätten die Möglichkeit, einen abzuschleppen.«
Das sonnige Wetter hatte an diesem Abend alle Jogger, Profis und Gelegenheitsläufer, ins Freie gelockt. Doch als sich der Himmel violett verfärbte und sich Dämmerung am Horizont ausbreitete, verschwanden sie einer nach dem anderen. Alicia hatte recht gehabt, der Kaffee hatte mich tatsächlich aufgemuntert. Mühelos trabte ich den Hügel hinauf zum Hauptweg, verfiel in ein angenehmes Tempo und genoss das rhythmische Schlagen meiner Füße gegen den Asphalt. Nach dem ersten Kilometer wurde ich von einem tiefen und meditativen Gefühl der Ruhe ergriffen.
Leider jedoch war Meditieren seit einiger Zeit eine gefährliche Beschäftigung für mich. Denn unweigerlich hatte ich dabei Julians Bild vor Augen und deshalb große Mühe, mein Gehirn mit roher Gewalt in praktischere Bahnen zu zwingen – Berechnungen, wie ich im nächsten Herbst das Wirtschaftsstudium finanzieren sollte oder wie lange meine Ersparnisse bei unterschiedlichen Raten des Kapitalverzehrs ausreichen würden. Einfache und lösbare Denksportaufgaben also.
Ich hielt länger durch als gewöhnlich, lief gegen den Uhrzeigersinn nach Norden, hatte das Ende des Parks bald erreicht und steuerte gerade auf die steile Strecke in Richtung 96. Straße zu, als mein Verstand sich wieder von der Leine löste. So verzweifelt ich auch versuchte ihn einzufangen, es war zwecklos. Vor mir erschienen Julians Gesicht, seine strahlenden Augen und sein ausdrucksvolles Lächeln. Ich dachte an unseren Briefwechsel per E-Mail am Weihnachtsabend, so voller Zuneigung und Humor – und dann plötzlich so kalt; das letzte »Liebe Kate« war so wundervoll formuliert und gegen Ende so seltsam förmlich gewesen, als hätte er es aus einem altmodischen Buch für Musterbriefe abgeschrieben. Daran, dass ich ihn anrief und ihn um Hilfe bat, war überhaupt nicht zu denken. Hallo, Julian, hier spricht Kate. Könnten Sie mir vielleicht eine Empfehlung für meine Praktikumsstelle im Sommer schreiben? Vielen Dank auch!
In gewisser Weise wäre es einfacher gewesen, wenn wirklich etwas geschehen wäre. Wenn sich zwischen uns mehr abgespielt hätte als einige Worte, ein paar eindringliche Blicke und der Anflug eines aufkeimenden Verstehens. Dann hätte ich ihm wenigstens böse sein können. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, mich in Empörung und Selbstmitleid zu suhlen, ihn als herzlosen Mistkerl zu beschimpfen, sein Foto mit Dartspfeilen zu bewerfen und anschließend zum Alltag überzugehen. Dass ich niemandem die Schuld geben konnte, machte es so unbeschreiblich schwerer. An seinem Verhalten war wirklich nichts auszusetzen gewesen. Nach dem eleganten Abschied hatte er nicht mehr versucht mich zu erreichen, und das, obwohl das Biodermageschäft im Februar geplatzt war, ein Schlag ins Kontor zwar, aber dennoch einer Verlängerung der Qualen durch gelegentliche und unpersönliche Begegnungen vorzuziehen.
Vor ein paar Tagen hatte ich aufgeschnappt, Southfield reduziere sein Engagement, verkaufe oder stehe sogar kurz vor der Schließung. Inzwischen huschten viele
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