Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
ähnlich gelagerte Gerüchte wie verängstigte Kaninchen die Wall Street hinunter. Eine eigenartige Stimmung lag in der Luft, das leichte Vibrieren eines Marktes, der im Begriff war, sich zu wenden, wenn man dem Getuschel glauben konnte. Der Immobilienmarkt, durch Hauskredite abgedeckte Sicherheiten, Wertberichtigungen, Kapitaldeckungen. Eigentlich keine Dinge, über die man gerne nachgrübeln wollte. Dennoch lauerten sie im Hintergrund, weshalb man ihr Vorhandensein nicht völlig ignorieren durfte.
Als ich den Gipfel des Hügels erreicht hatte und durch den schattigen Wald lief, dämmerte es schon. Der Joggerpulk im Umkreis der Metropolitan Opera hatte sich fast vollständig aufgelöst. Hinter mir nahm ich eine Bewegung wahr. Schritte hallten wie meine auf dem Asphalt wider; dazu die schweren und regelmäßigen Atemzüge eines Menschen, der sich den Hügel hinaufquälte.
Links von mir konnte ich jenseits der Bäume den Querweg erkennen. Zwischen den Ästen kam ein Mann in Sicht, der in hoher Geschwindigkeit auf die Kreuzung West Drive zusteuerte. Er war kräftig gebaut und muskulös und hatte etwas Streitlustiges an sich. In Manhattan wimmelte es von aggressiven Zeitgenossen, die ihren Frust auf der Joggingstrecke austobten und ihre Mitmenschen zu spontanen fünfzig Meter oder fünf Kilometer langen Wettrennen herausforderten. Da ich im Moment keine Lust auf eine Konfrontation hatte, wurde ich langsamer, überlegte es mir dann jedoch anders und lief weiter. Ich war gut in Form und fühlte mich der Aufgabe gewachsen. Außerdem würde es mir sicher guttun, mich zu verausgaben, mich zu Höchstleistungen anzutreiben und die eigenen Grenzen zu überschreiten.
Der Mann erreichte die Wegkreuzung kurz vor mir. Doch anstatt links abzubiegen, beschrieb er, ohne hinzuschauen, eine scharfe Rechtskurve. Sein Arm traf mich schwungvoll an der Schulter, so dass ich seitlich auf dem Asphalt landete.
Erschrocken spürte ich den kräftigen Aufprall. Ich war schnell gelaufen. Er auch. Und er tat es immer noch. Er war nicht einmal langsamer geworden, um sich zu vergewissern, dass mir nichts zugestoßen war.
»Aufpassen, Blödmann!«, rief ich ihm spontan nach. Ich spürte, wie sich Schmerzen in meinen Gliedmaßen ausbreiteten. Eindeutig würden ein paar Pflaster nötig sein. Im nächsten Moment begann ich vor Wut zu zittern. »Ich habe gesagt, aufpassen, Blödmann!«, schrie ich wieder, ohne mich um die möglichen Folgen zu kümmern.
Das Ganze dauerte nur drei Sekunden. In der nächsten drehte er sich um.
»Hast du ein Problem, Schlampe?«, brüllte er. »Lass mich in Ruh mit deinem Scheiß!«
»Sie haben mich umgerannt!«
»Du warst mir im Weg, Fotze!«
»Arschloch«, murmelte ich und rappelte mich auf.
Da stürzte er sich auf mich.
Ich machte mich auf den unmittelbar bevorstehenden Angriff gefasst und schloss die Augen. Es würde weh tun. Zeit für einen Krankenwagen. Wie konntest du nur so dumm sein, Kate? Tut mir leid, Mom.
Doch der Zusammenstoß glitt von mir ab. Erstaunt, dass ich noch aufrecht stand, taumelte ich ein paar Schritte rückwärts und öffnete die Augen.
Vor mir auf dem Asphalt wälzten sich zwei Männer. Der Jogger, fiel es mir ein. Der Jogger, der hinter mir gewesen war. Oder vielleicht ein vorbeikommender Radfahrer. Jedenfalls irgendein wahnwitziger Held.
Das Wälzen hörte auf. Einer der Männer saß rittlings auf dem anderen und bearbeitete ihn schnell und geschickt wie eine Maschine mit den Fäusten. Etwas Dunkles spritzte gegen mein Bein. »O mein Gott!«, stieß ich hervor. »Aufhören! Hilfe!«
Niemand ließ sich blicken. Ein Radfahrer flitzte vorbei, ohne anzuhalten. Vielleicht hatte er uns in der Dunkelheit nicht gesehen. Vielleicht hielt er uns für einen Haufen betrunkener Jugendlicher. Vielleicht war es ihm auch einfach egal.
»Aufhören!«, schrie ich wieder, diesmal noch lauter und ziemlich verzweifelt. »Aufhören! Sie bringen ihn ja um!«
Plötzlich sprang der Mann, der oben gesessen hatte, auf und wischte sich die rechte Hand an den Shorts ab. Sein Gegner lag reglos da.
»Oh, Mist«, flüsterte ich.
Der Sieger drehte sich zu mir um. »Ist Ihnen etwas passiert?«, fragte er besorgt und streckte die Arme aus. Sein Gesicht konnte ich wegen der schlechten Lichtverhältnisse nicht ausmachen, aber die Stimme kannte ich.
»O mein Gott«, sagte ich. »Julian?«
»Herrgott, Kate.« Seine Hände tasteten meine Arme und Beine nach Verletzungen ab. »Hast du Schmerzen?«
»Überall«,
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