Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
murmelte ich. Im nächsten Moment wurde meine Nase gegen sein Schlüsselbein gedrückt, und seine stahlharten Arme schlossen sich um meinen Körper.
Schweigend und schwer atmend standen wir eng umschlungen und zitternd da, bis er mich sanft wegschob.
»Du zitterst ja. Du stehst unter Schock.«
»Alles in Ordnung.«
»Nein, du brauchst eine Decke. Irgendetwas … verdammt.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
»Keine Angst. Es ist wirklich in Ordnung. Was machst du denn hier?«
»Joggen.« Sein Ton war verärgert. Der Mann am Boden stöhnte auf. »Lass uns verschwinden«, sagte Julian.
»Und ihn liegenlassen?«
»Der wird schon wieder«, entgegnete er abfällig.
»Was, wenn er stirbt oder so?«
»Er wird nicht gleich sterben, Kate, das versichere ich dir.« Er sah mich an und seufzte tief. »Also gut, ich rufe die Polizei an und gebe ihr einen Tipp.«
»Wir müssen bleiben. Wir dürfen nicht einfach abhauen. Das hier ist irgendwie wie ein Tatort.«
Julian stützte die Fingerknöchel in die Hüften. Ich spürte, dass er finster das Gesicht verzog, obwohl ich es nicht sehen konnte. Nachdem er den Mann auf dem Boden betrachtet hatte, fixierte er mich mit einem langen, wortlosen Blick. »Meinetwegen. Aber es wird eine unschöne Sache werden. Du wirst eine Aussage machen und vielleicht sogar vor Gericht erscheinen müssen. Außerdem wird er mich vermutlich verklagen, wenn er erfährt, wer ich bin.«
»Entschuldige.«
»Keine Sorge. Du kannst ja nichts dafür. Eigentlich müsste ich mir einen Anwalt leisten können.« Er zog ein Telefon aus der Tasche seiner Shorts und tippte die Nummer ein. »Wahrscheinlich ist es das Richtige«, meinte er leise. »Auch wenn der Kerl es eindeutig nicht verdient hat.«
Ich spürte, wie meine Muskeln zu zittern begannen, ohne sich um meinen Beschluss zu kümmern, die Ruhe zu bewahren, und schlang die Arme um den Körper. Julian sprach flüssig und gelassen ins Telefon und beobachtete dabei den am Boden Liegenden. Als er aus dem Augenwinkel meine Bewegung bemerkte, legte er den linken Arm um mich und zog mich an sich. »Sie scheint in Ordnung zu sein«, sagte er, »aber sie ist dabei, einen Schock zu bekommen. Ich versuche sie warm zu halten. Ja. In Ordnung. Zwei Minuten. Vielen Dank.«
Er steckte das Telefon wieder in die Hosentasche und legte auch den anderen Arm um mich. »Sie sind gleich da. Atme langsam durch.«
»Es ist mir wirklich nichts passiert«, beharrte ich und unterdrückte ein Schluchzen. Ich hatte noch nie einen hysterischen Anfall gehabt und wollte auch jetzt nicht damit anfangen. Nicht, während Julian Laurence mich in den Armen hielt. Sein dickes graues T-Shirt fühlte sich an meinem Gesicht weich und ein wenig durchgeschwitzt an; seine Brust strahlte eine ausgesprochen angenehme Wärme ab. »Und warum warst du ausgerechnet jetzt beim Joggen?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich einfach nur Glück«, erwiderte er.
Ich ließ das eine Weile auf mich wirken. Dann fiel mir noch etwas ein.
»Und wo hast du gelernt, so zuzuschlagen?«
»Hm. An der Universität.«
»Wird an englischen Colleges etwa Boxen unterrichtet?«
»Eine wunderschöne Kunst. Fühlst du dich besser?« Seine Arme lockerten sich.
»Ja, ein bisschen. Was, wenn er aufwacht?«
»Keine Angst«, entgegnete er mit finsterem Blick. Ich verstummte. Inzwischen konnte ich, wenn auch noch weit entfernt, eine Sirene hören.
»Wahrscheinlich ist jetzt nicht der richtige Augenblick zum Reden …«, begann ich.
»Pst«, unterbrach er mich und fuhr mir mit den Handflächen über den Rücken. Die Sirene wurde lauter. »Wir unterhalten uns später.«
Nachdem sich die Polizisten rasch ein Bild vom Stand der Dinge – meine Abschürfungen und blauen Flecke, der stöhnende Mann auf dem Asphalt, unsere ehrlichen Antworten und Julians Fingerknöchel – gemacht hatten, ließen sie uns in Ruhe, nahmen nur unsere Aussagen auf und notierten sich Namen und Adressen. Bei der New Yorker Polizei ist man klug genug, unbescholtene Bürger und Bösewichte auseinanderzuhalten.
Trotzdem war es schon spät, als ich in meine Wohnung zurückkehrte. Einer der Polizisten fuhr uns im Streifenwagen nach Hause in die East Side und setzte mich zuerst ab.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, erkundigte sich Julian, als ich die Hand nach dem Türgriff ausstreckte.
»Nichts, was sich nicht mit ein wenig Neosporin kurieren ließe«, versicherte ich ihm. »Und … äh … übrigens danke. Ich bin noch nie gerettet
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