Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Kleid entdeckt und schlängelte mich vorsichtig zwischen schwingenden Kleiderbügeln hindurch.
Mein Telefon läutete.
Als ich das Geräusch hörte, machte mein Herz einen Satz. Ich nahm mein Telefon aus der Tasche, doch die Nummer auf dem Bildschirm war nicht die von Julian. Seufzend steckte ich mir das Bluetooth ins Ohr. »Hallo, Mom. Was gibt es?«
»Liebes, ist wirklich alles in Ordnung?«
»Mom, du weinst doch nicht etwa?«
»Mary Alice hat mich angerufen und mir alles erzählt. Was ist passiert? Bist du … überfallen worden?« Sie raunte das Wort, als ginge es um eine Vergewaltigung.
»So schlimm war es nicht. Ein Typ hat mich im Park umgerannt, und ein Freund hat mir aus der Patsche geholfen.«
»Okay, aber wer ist dieser Freund? Mary Alice sagt, er ist eine Art … Milliardär .« Schon wieder dieses Geraune. Du meine Güte!
»Mom, er leitet einen Hedgefonds, mehr nicht. Er ist so etwas wie ein Kunde.«
» Wie ein Kunde? Oder ein Kunde?« Mom musste immer dann besonders aufmerksam zuhören, wenn es überhaupt nicht passte.
»Schwer zu erklären. Wie es an der Wall Street eben so ist.«
»Oh, Liebes. Wie schwer bist du verletzt?«
»Fast überhaupt nicht. Nur ein paar Kratzer.«
»Aber du bist doch sicher traumatisiert.«
»Mom, die Polizei hat alles im Griff …«
»Polizei?«
Hoppla! »Du machst aus einer Mücke einen Elefanten«, zischte ich und betastete dabei das Kleid. Es war lang, hautfarben und hatte ein tiefes, gerade geschnittenes Dekolleté. Der Rock bestand aus Chiffon und war in weiten Abständen mit winzigen funkelnden Perlen bestickt.
»Liebes«, sagte sie nach einigen Sekunden erschrockenen Schweigens. »Ich setze mich noch heute Abend in den Flieger.«
»Nein! O mein Gott, Mom, nicht! Es geht mir prima, wirklich!« Alicia war näher gekommen und musterte das Kleid, das ich mir ausgesucht hatte. Mit missbilligend verzogenen Lippen nahm sie es vom Ständer und hielt es mir an.
»Liebes, du bist überfallen worden!«
»Zum letzten Mal, ich wurde nicht überfallen. Es war nur eine … Meinungsverschiedenheit. Bitte komm nicht her. Spar dir das Geld. Denk an den Altersruhesitz in Florida.«
»Ich will mich nicht in Florida zur Ruhe setzen.«
»Hör zu, ich muss los. Im Moment bin ich gerade bei Barneys. Komm nicht her, okay? Mir geht es ausgezeichnet. Körperlich und psychisch.«
»Ich liebe dich, Schatz.«
»Ich dich auch. Tschüss.« Ich beendete das Gespräch und steckte das Telefon ein. »Hängen Sie es nicht zurück. Ich werde es anprobieren.«
»Wirklich? Es gibt viel bessere Sachen hier.«
»Ich mag es aber.«
»Meinetwegen«, seufzte sie und reichte mir das Kleid. »Ich fahre jetzt nach Hause und ziehe mich um. Wir sehen uns dort. Vergessen Sie nicht, Cocktails um halb acht. Kommen Sie zu spät.«
»Zu spät?«
»Nur Verlierer sind pünktlich.«
Gut, dann war ich eben eine Verliererin. Ich nahm ein ausgedehntes Schaumbad, ich rasierte mir die Beine, ich benützte Peelingcreme, Gesichtsmaske und Feuchtigkeitslotion und klebte praktisch unsichtbare neue Pflaster auf meine Wunden. Ich lackierte mir sogar die Zehennägel. Doch trotz all dieses Aufwands plus Anziehen, Schminken, Frisieren und das Entgegennehmen diverser Anrufe von Freunden, Bekannten und entfernten Verwandten – bis ich mein Telefon ausschaltete – stellte ich fest, dass es sieben Uhr neunundzwanzig war, als ich mit dem Taxi am Museum of Modern Art vorfuhr. Ich schob es auf den Verkehr. Auf der Park Avenue waren wir so gut vorangekommen wie auf einer Schnellstraße, was nur dann geschieht, wenn man es nicht eilig hat.
Als ich eintrat, waren bereits acht Gäste da, alles Männer unter eins sechzig. Ich steuerte direkt auf die Bar zu. »Champagner, bitte«, wandte ich mich an den Barmann. »Pur.«
Er zwinkerte. »Kommt sofort.« Er förderte eine Champagnerflöte zutage und schenkte ein. »So«, meinte er im Plauderton. »Und was macht ein entzückendes Mädchen wie Sie schon so früh hier?«
Ich griff nach dem Glas. »Ich bin auf der Flucht vor der Presse«, antwortete ich und nahm einen großen Schluck.
Ich schlenderte zu der stummen Auktion hinüber und betrachtete die Reihen von Aushängen und Klemmbrettern – alltägliche Gegenstände, die das Außergewöhnliche beschrieben, und außerdem der sichtbare Beweis für die Existenz der Luxuswelt, an deren Rand ich nun schon seit drei Jahren verharrte. Mittagessen und ein Baseball-Training mit Derek Jeter war für ein Startgebot von
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