Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
hereinwehte. Die hässlichen Rückseiten der umliegenden Häuser ragten über mir auf. Doch das kümmerte mich nicht mehr; der Abend hatte für mich bereits seinen Glanz verloren. Aber was hatte ich denn anderes erwartet? Dass Julian durch eine telepathische Botschaft von meiner Ankunft bei der Gala erfuhr und erschien, um mich zu entführen? Was war ich nur für eine Idiotin? Er war eben ein Gentleman und mir ausschließlich deshalb im Park zu Hilfe gekommen. Das bedeutete noch lange nicht, dass er auf mich stand .
»Da sind Sie ja«, sagte jemand hinter mir. Im ersten Moment hatte ich Herzklopfen, bis mir klar wurde, dass es die falsche Person war.
Langsam drehte ich mich um. »Hallo«, sagte ich. »Mike, richtig?«
»Mark.« Offenbar ermutigt davon, dass ich mir seinen Namen bis auf zwei Buchstaben gemerkt hatte, grinste er mich an. »Schlagen Sie ein«, fügte er hinzu und hielt die Hand hoch.
»Tut mir leid«, erwiderte ich. »Bin ziemlich erledigt.«
»Schon gut. Ich habe Ihnen Champagner mitgebracht«, sagte er voller Hoffnung und streckte mir das Glas hin.
»Äh … danke.« Ich nahm das Glas und stellte es vorsichtig auf die Balustrade. »Ich warne Sie. Da unten stehen ein paar Müllcontainer, und ich glaube nicht, dass sie in letzter Zeit geleert worden sind.«
Er zuckte mit den Schultern. »Kein Problem. Ich brüte ohnehin eine Erkältung aus. Ich rieche nichts.«
Reizend.
»Also«, durchbrach er mein Schweigen, »was führt Sie ganz allein hier nach draußen?«
»Der Zigarrenrauch.«
»Ja, ich fand auch, dass es dadrin ziemlich neblig wurde. Ein paar Arschlöcher aus der Derivateabteilung von Sterling Bates.«
»Hätte ich mir denken können«, murmelte ich.
»Möchten Sie tanzen? Ich glaube, die Musik hat angefangen.«
»Äh … danke für das Angebot, Mark, aber ich glaube, ich gehe lieber nach Hause. Ich muss morgen früh zur Arbeit.«
»Wo arbeiten Sie denn?«
»Sterling Bates.«
»Oh, Mist. Da bin ich wohl gerade ins Fettnäpfchen getreten.« Er hielt inne und knackte mit den Fingerknöcheln. »Wollen wir uns ein Taxi teilen?«
»Äh … eigentlich bin ich mit einem Freund hier …«
»Wo ist er? Ich sage ihm, dass Sie früher verschwinden.«
»Wissen Sie, das ist nicht nötig. Ich suche ihn selbst.« Ich griff nach meiner Handtasche, die neben dem unberührten Champagnerglas auf der Balustrade stand. »Noch einen schönen Abend, Mark.«
»Warte.« Er packte mich am Arm.
»Mark«, stieß ich durch zusammengebissene Zähne hervor. »Ich muss auf die Toilette.«
»Warte einen Moment«, sagte er. Inzwischen roch ich den Scotch in seinem Atem.
»Im Ernst, Mark.« Ich riss mich los. »Ich muss wirklich gehen.«
Er packte mich wieder. »Nein, Moment. Du musst mir zuhören.«
»Nein, muss ich nicht.«
»Was ist nur los mit euch Fotzen? Ihr seid nur auf die ganz großen Schwänze aus. Was ist mit meinem?«
»Mark«, zischte ich empört, »in zwei Sekunden fange ich an zu schreien. Laut. Also lassen Sie mich jetzt am besten los. Aber sofort.«
Als er sich auf mich stürzen wollte, rammte ich ihm das Knie in den Unterleib. »Fotze!«, keuchte er und krümmte sich. Im nächsten Moment holte er mit dem Arm aus und traf meinen Bauch.
Offenbar war das nicht meine Woche.
Ich zerschmetterte mein Glas auf seinem Kopf. »So«, sagte ich. »Und jetzt fick dich ins Knie, Mark.« Ich rauschte an ihm vorbei und rannte zur Tür – genau gegen die elegant gewandete Brust von Julian Laurence.
»Kate, mein Gott! Was ist passiert?«
»Ach, jetzt lässt du dich blicken«, keuchte ich. »Ich hätte dich vor fünf Minuten gebrauchen können.«
Julian schaute an mir vorbei, bemerkte den stöhnend vornübergebeugten Mark Oliver, der Champagnertröpfchen über die ganze Terrasse sprühte, und fing an zu lachen. »Oh, da bin ich nicht so sicher. Offenbar hattest du die Sache ganz gut im Griff. Der arme Teufel.«
Meine Mundwinkel hoben sich wider Willen zu einem Lächeln. »Nun«, entgegnete ich, »ich bin nicht völlig hilflos.«
»Ich weiß.« Er nahm meine Hand. »Dann komm, Liebling. Lass uns verschwinden.«
Amiens
Die dunkle, verqualmte Gaststube des Chat d’Or war gut besucht, hauptsächlich von britischen Offizieren, deren blitzsaubere khakifarbene Uniformjacken auf ihre Zugehörigkeit zum Stab hinwiesen. Einige saßen plaudernd und lachend zusammen, andere waren in Gesellschaft einer Frau und wirkten sehr um Diskretion bemüht.
»Ist auch sicher alles in Ordnung?«, fragte Julian
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