Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
gefreut«, fuhr er mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen fort, »als ich hörte, dass er die freie Welt gerettet hat.«
Was du vielleicht auch hättest tun können.
Inzwischen wirkte er völlig entspannt und, wie er selbst gesagt hatte, erleichtert, dass die Sache nun endlich auf dem Tisch war. Die in ein weißes Hemd gehüllten breiten Schultern ruhten an der Sofalehne. Der Kragen schmiegte sich noch steif und ordentlich an seinen muskulösen goldbraunen Hals, obwohl er die Krawatte gelockert hatte. Den markanten Kiefer reckte er nach oben, als wären die gesuchten Erinnerungen hinauf zur Decke geschwebt.
Im nächsten Moment ergriff mich ein merkwürdiges Gefühl, und es war, als täte sich die ganze Welt vor mir auf. Julians unglaubliche Enthüllung war plötzlich ganz und gar nicht mehr beängstigend, sondern etwas Gutes, das neue Erkenntnisse eröffnete. Dass ich hier mit diesem hinreißenden, aristokratisch wirkenden Mann auf dem Sofa saß, war ein unverdientes und unbeschreiblich wertvolles Geschenk, das vollständig auszuwickeln wohl viele Jahre in Anspruch nehmen würde.
»Erzähl mir alles«, forderte ich ihn auf und beugte mich vor. »Ich will alles wissen.« Ich betrachtete seine Hand, die meine liebkoste, und schob die Finger unter seinen Ärmel. »Erzähl mir, was wirklich mit deinem Arm passiert ist.«
»Schrapnell.«
»Nun, das ist ja wohl offensichtlich«, erwiderte ich, um einen weltgewandten Ton bemüht. Ich stellte das Weinglas hin und krempelte wie vor wenigen Tagen seinen Ärmel hoch.
»Eigentlich nur ein Streifschuss«, sagte er. »Ich hatte Glück. Allerdings war es ziemlich peinlich, die Front nach nur einer Woche im Schützengraben verlassen zu müssen.«
»Peinlich? Du hättest sterben können. Oder … oder den Arm verlieren.«
»Schrapnelle sind eine ziemlich üble Sache«, räumte er ein und betrachtete die Narbe. »Sie haben mich ziemlich gut wieder zusammengeflickt. Eigentlich sollte ich im Lazarett bleiben, aber ich wollte nicht so lange ausfallen.«
»Also hast du verlangt, wieder an die Front geschickt zu werden. Trotz der geschädigten Nerven.«
»So ernst war es wirklich nicht. Sieht schlimmer aus, als es ist.«
Eine Weile musterte ich sein Gesicht und versuchte das grausige Bild aus meinem Kopf zu vertreiben – Julian verletzt, blutend, mit aufgerissenem Arm, wie er mit zusammengebissenen Zähnen den Schmerzen trotzte. »Gott sei Dank«, flüsterte ich. »Gott sei Dank ist diese … Sache passiert und hat dich wohlbehalten hierhergeführt, bevor dir jemand anders etwas antun konnte.«
Er verzog das Gesicht. »Findest du?«
»Mein Gott, natürlich! Du sitzt hier bei mir, anstatt irgendwo in Frankreich begraben zu sein. Dann hätte ich dich nie kennengelernt.«
»Vielleicht wäre das besser gewesen.«
»Nein. Nein .« Ich schüttelte den Kopf. »Fang jetzt nicht damit an. Ich verbiete dir, Schuldgefühle zu haben, weil du überlebt hast.«
»Schuldgefühle?«
»Du weißt schon … du lebst noch, während alle anderen …«
Er entzog mir seine Hand und lehnte sich zurück. »Kate«, sagte er leise, »wir sprechen hier nicht über eine abstrakte psychische Störung. Ich habe alle im Stich gelassen, die mich gebraucht haben.«
»Aber doch nicht freiwillig, Julian!«
Er starrte in den leeren Kamin. »Ich habe es nicht einmal über mich gebracht, mich nach meiner alten Kompanie zu erkundigen. Wer gefallen ist. Wer den Rest seines Lebens mit einer Kriegsneurose verbracht hat.«
Gefallen. Kriegsneurose . Ich hörte die ungewohnten Wörter und spürte in der Luft zwischen uns, dass er sich zurückzog. Langsam drehte ich mich um, lehnte mich an seine Brust und umfasste seine Hand. Sein Brustkorb hinter mir hob und senkte sich regelmäßig, und ich sog alles in mich auf – seine Wärme, seine Kraft, das Wunder, dass er überhaupt noch lebte.
»Hattest du denn eine Kriegsneurose?«, fragte ich.
»Eigentlich nicht. Nur ein Alptraum hier und da. Und Erschrecken bei gewissen Geräuschen, was ziemlich lästig ist.«
»Wie war es?«, flüsterte ich. »Wie warst du? «
Ein kurzes Auflachen. »Schlammig. Schmutzig. Und der Gestank! Ich rieche es noch, als wäre es gestern gewesen. Du kannst es dir nicht vorstellen. Es ist unmöglich zu beschreiben. Dann die quälende Langeweile, die hirnlose Verwaltungsarbeit, das endlose Warten. Und plötzlich musste alles ganz schnell gehen. Dazu die Patrouillen und das ständige Balancieren auf Messers Schneide. Zwischen
Weitere Kostenlose Bücher