Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Leben und Tod. Aufregend. Erschreckend. Erhebend. Die Seele vernichtend.«
Ich schloss die mit Tränen gefüllten Augen. »Nun, das erklärt vieles«, erwiderte ich und streichelte geduldig seine Finger. »War es schwer, auf Menschen zu schießen?«
»Wenn du fragst, ob ich jemanden getötet habe …«
»Wahrscheinlich. Aber du brauchst nicht zu antworten.«
»Ja«, sagte er nur.
»Belastet es dich?«
Er überlegte eine Weile. »Nicht unbedingt. Eigentlich nicht. Vielleicht philosophisch betrachtet oder unbewusst, allerdings nicht im Sinne der Vernunft oder Moral. Schließlich wollten die anderen uns auch töten.« Er hielt inne. »Stört dich das?«
»Nein. Wenn ich sehen würde, dass dir jemand ans Leben will, würde ich auch zur Waffe greifen und denjenigen umbringen.«
»Das ist meine Aufgabe, Liebling. Ich habe die Pflicht, dich zu verteidigen.«
»In diesem Jahrhundert sind beide Seiten gefordert«, beharrte ich. »Auch wenn du es vermutlich viel besser kannst als ich. Das hast du ja ziemlich eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Im Park, meine ich.« Ich lachte kurz auf, als ich mich erinnerte. »Der arme Typ. Er hatte keine Ahnung, worauf er sich eingelassen hat.« Noch ein Auflachen, begleitet von einem ungläubigen Kopfschütteln. »Ein Captain der Infanterie aus dem Ersten Weltkrieg. In dieser verrückten Stadt weiß man nie, wem man so alles begegnen könnte.«
Er hauchte mir einen zarten Kuss auf die Ohrspitze. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich eine komplizierte Vergangenheit habe.«
»Trotzdem wäre ich nie auf eine Zeitreise gekommen.«
»Du nimmst es also hin?«, fragte er nach einer Weile mit leiser Stimme.
»Hinnehmen? Julian, ich … ich meine … das muss ich doch, oder? Schließlich bist du da. Ich bilde mir dich nicht nur ein. Es ist auch unmöglich, dass du lügst. Vielleicht träume ich das Ganze ja auch nur, aber es fühlt sich nicht so an.« Ich hielt inne. »Und weißt du was? Auf seltsame Weise passt es auch. Du unterscheidest dich so völlig von anderen Menschen, und ich kam einfach nicht dahinter, woran es lag. Es hat mich an einen dieser 3D-Filme erinnert, bevor man die Brille aufsetzt. Die Bilder sind verschwommen und nicht stimmig. Inzwischen aber trage ich diese Brille, und seitdem stehst du tausendmal klarer und lebensechter vor mir als zuvor. Ich verstehe, warum du so bist.«
»Und du fürchtest dich nicht?«
Gleichzeitig lachte ich auf und schnappte nach Luft. »Ob ich mich fürchte? Julian, ich habe eine Todesangst. Wenn ich hier sitze, die Augen schließe und denke: Er wurde vor hundert Jahren geboren und ist einfach hier gelandet. Es klingt so … unwirklich. Nein, es ist unwirklich. Nicht die Tatsache, dass du hier sitzt, sondern wer du bist. Du bist eine historische Gestalt. Ich weiß gar nicht, wie ich das verarbeiten soll.«
Er zog mich fest an sich und neigte den Kopf zu mir hinunter. »Kate, Liebling, ich bin es nur, du musst nicht …«
Ich unterbrach ihn mit leiser Stimme. »Und dann mache ich die Augen auf, und du bist da. Ich kenne dich. Du bist mir der vertrauteste Mensch auf der Welt.« Ich drehte das Gesicht zu ihm herum, bis unsere Wangen sich beinahe berührten. »Und ich denke daran, wie du mich letzte Nacht in den Armen gehalten hast und wie ich mich gefühlt habe. Wie ich mich jetzt fühle.«
»Beschreib es mir.«
»Geliebt. Geborgen. Und die Furcht legt sich, bis alles – das, was du bist – mir beinahe … normal erscheint.« Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Im nächsten Moment fiel mein Blick auf den dunkelroten und reglosen Weinsee in meinem Glas. Ich streckte einen Finger aus und schloss ihn um den Stiel. »Also gut, ich kaufe dir ab, dass du Julian Ashford bist. Wenn ich es sachlich betrachte, ist das eigentlich recht cool.«
»Cool?« Als er anfing zu lachen, wurde mein Oberkörper erschüttert. »Etwas Besseres fällt dir nicht ein? Cool?«
»Tut mir leid«, erwiderte ich, ebenfalls lachend. »Das war ziemlich schwach. Was hältst du davon? Du bist Julian Ashford, und das ist bemerkenswert. Wie ein Wunder. Das Schönste, was ich je erlebt habe, und ich bin unbeschreiblich dankbar dafür. Du bist Julian Ashford, und du lebst. Gott sei Dank, Gott sei Dank sitzt du jetzt neben mir und …« Ich verstummte. Meine Stimme erstarb.
»Und?«
»Und du gehörst mir.« Das letzte Wort kam mit einer Hebung heraus.
»Kate«, sagte er, zog mich an sich und senkte den Kopf. »Ich gehöre dir. Wenigstens das musst du mir
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