Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Was du ertragen musstest. Der neue Julian, den ich nicht kenne.«
»Aber du kennst mich. Ich habe mich nicht verändert.« Drängend rieb er mit den Daumen über meine Hände. »Schau mich an, Liebling. Ich bin es nur. Ich bin noch genau derselbe Mann wie zuvor. Du kennst mich.«
»Das alles passiert nicht wirklich.« Ich betrachtete unsere ineinander verschlungenen Hände. Seine Hände. Hände, die eine Granate geworfen, den Abzug eines Enfield-Gewehrs betätigt und ein Gedicht, das in den Literaturkanon aufgenommen worden war, im Notizbuch eines Infanterieoffiziers festgehalten hatten.
Die Hände von Julian Ashford.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er nach einer Weile.
»Es geht mir schon besser als vorhin. Heute Nachmittag musste ich mich übergeben.«
»Es tut mir leid, Kate.« Er beugte sich vor und küsste meine kalten Finger. »Wenn du nur wüsstest, wie es mich besorgt, ja, gequält hat. Ich habe darüber nachgegrübelt, ob ich es dir erzählen und wie ich es dir beibringen soll. Und das alles in dem Wissen, welche Dummheit es von mir war, dir den Hof zu machen.«
»Viel Mühe hast du dir ja nicht zu geben brauchen, oder?« Ich sah ihn an. »Also braucht es dir nicht leidzutun. Es ist nicht deine Schuld.«
»Ich habe versucht, mich von dir fernzuhalten. Und ich hätte es auch weiterhin tun sollen.«
»Ich war unglücklich ohne dich.«
»Und so ist es besser?«
»Ich werde mich daran gewöhnen. Gib mir Zeit.« Meine Stimme stockte beim letzten Wort.
»Alle Zeit der Welt.«
»Ich werde mich daran gewöhnen, weil ich es muss«, fuhr ich fort. »Ich habe nämlich gar keine andere Wahl mehr.«
»Doch, hast du. Ich hätte Verständnis dafür.«
»Ach, bitte. Damit hilfst du mir nicht weiter.« Ich entzog ihm meine Hände und rieb mir mit den Fingern die Schläfen.
»Ich meine es ernst, Kate«, beharrte er. »Du musst nicht bleiben, wenn es dir zu viel ist.«
Ich öffnete die Augen wieder. Sein Gesicht verschwamm vor mir in einem Schleier aus nicht vergossenen Tränen. »Doch, ich muss. Der Moment, in dem ich dich noch hätte verlassen können, ist längst vorbei, ganz gleich, was und wer du bist.«
Er schloss kurz die Augen, stand dann auf, drehte sich um und lehnte sich neben mir an die Mauer. »Ich nehme an, du hast Fragen.«
»Etwa eine Million. Aber ich weiß nicht einmal, welche ich stellen soll. Ich glaube es ja noch nicht einmal richtig. Selbst jetzt denke ich, dass es nicht wahr sein kann, obwohl ich dich neben mir wahrnehme, so echt und warm und greifbar und … wirklich vorhanden. Erst letzte Nacht und heute Morgen haben wir zusammen dagelegen …« Ich konnte es nicht aussprechen. Die Erinnerung war zu kostbar.
»Können wir nicht ins Haus gehen und bei einer Flasche Wein darüber reden?«
Es klang so alltäglich, aber was sollten wir anderes tun?
Als ich nickte, zog er mich auf die Füße und nahm meine Hand. Wortlos schlenderten wir zurück zum Haus. Zwischen uns war alles in Bewegung und sortierte sich neu, so dass sich mir der Kopf drehte. Eigentlich hatte ich gedacht, dass er es nicht zugeben würde. Ich hatte geglaubt, er würde mir lachend irgendeine Erklärung liefern, auch wenn sie nicht der Wahrheit entsprach und wir beide das wussten. Ich hatte einfach gehofft, dass die Angelegenheit sich in Luft auflösen würde, damit wir wieder Kate und Julian sein konnten.
Er führte mich zum Wohnzimmersofa, bedeutete mir, mich zu setzen, und kehrte kurz darauf mit einer Karaffe und zwei Gläsern zurück. »Ein 82er Lafite«, verkündete er und schenkte mir ein Glas ein. »Den habe ich mir für besondere Gelegenheiten aufgespart.«
»Zum Beispiel, wenn du deiner Freundin eröffnest, dass du ein Kriegsheld aus dem Jahr 1916 bist?«
Er grinste mich an. »Ah, dein Sinn für Humor ist wieder da«, sagte er, stellte die Karaffe auf den Couchtisch und setzte sich neben mich. »Ein gutes Zeichen. Obwohl ich den Wein dekantiert habe, bevor ich heute Morgen losgefahren bin.« Er hielt die Nase über das Glas.
»Du wolltest es mir heute Nacht erzählen?«
»Nein.« Er lächelte verlegen. »Dein Anblick bei Tagesanbruch auf meinem Kissen hat mir den Verstand geraubt.« Als er sein Glas ausstreckte, stieß ich mit ihm an.
»Ich habe keine Ahnung, worauf wir trinken«, meinte ich.
»Auf die Wahrheit vermutlich. Weißt du, für mich ist es eine ziemliche Erleichterung. Insbesondere, da du es recht gut zu verkraften scheinst.«
»Das liegt nur daran, dass ich noch unter Schock stehe.
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