Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
Wahrscheinlich werde ich erst später hysterisch.« Ich nahm einen großen Schluck Wein. »O mein Gott«, stieß ich hervor und starrte auf das Glas. Ein üppiges fruchtiges Aroma stieg anmutig in mir auf und hüllte meinen Verstand ein.
»Ja, er ist wirklich gut«, stimmte er zu, ließ sein Glas ein wenig kreisen und trank noch einen Schluck. »Also, erste Frage, bitte.«
»Wie? Ich glaube, eigentlich kann ich hier schon aufhören. Wie? Wie kannst du jetzt neben mir sitzen? Eine Laune der Physik? Der Jungbrunnen? Oder eher …«, verlegen senkte ich den Kopf, als ich das Wort aussprach, »… Zauberei?«
»Offen gestanden, bin ich noch nicht dahintergekommen. Ich hörte eine Granate über meinem Kopf pfeifen und dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Und ehe ich mich’s versah, wachte ich in einem französischen Krankenhaus auf. Einem modernen Krankenhaus in der Nähe von Amiens.«
»Also …« Ich trank einen Schluck Wein, diesmal einen noch größeren. »Also hast du eine Zeitreise gemacht.« Plötzlich legte sich ein Schleier über meinen Verstand, so dass ich die Worte nur noch wie aus weiter Ferne hörte und mich über ihre Sachlichkeit wunderte. So, als würden wir ein Spiel der Yankees erörtern . Einen Homerun. Gut, dann eben eine Zeitreise.
Er schien überrascht, als hätte er eine andere Möglichkeit nie in Betracht gezogen. »Ja, vermutlich könnte man es so nennen. Offenbar hatte mich jemand auf einem Feld gefunden und einen Krankenwagen gerufen.«
»Wer?«
»Keine Ahnung. Der Mann ist verschwunden. Doch am nächsten Tag traf ein an mich adressierter, mit der Maschine geschriebener Brief im Krankenhaus ein. Er enthielt die Anweisung, mit niemandem über meine Vergangenheit zu sprechen, und außerdem den Schlüssel zu einem Schließfach im Bahnhof von Amiens. Als ich es eine Woche später öffnete, war ein Rucksack mit Kleidern, Geld und Papieren darin, also allem, was ich brauchte, um ein neues Leben anzufangen.«
»Als ob es geplant gewesen wäre. Schräg.« Ich lachte spöttisch auf. »Na, das war ein unzulängliches Wort. Schräg .«
Er strich über den Rand seines Weinglases. »Anfangs stand ich unter Schock, wie du dir sicher vorstellen kannst. Es ist die beunruhigendste Erfahrung, die es nur gibt. Erst glaubte ich, dass ich träumen würde oder tot wäre. Dann war ich sehr erleichtert, dass ich noch lebte. Und später kam ich ins Grübeln. Über alles, was ich zurückgelassen hatte und was die Zukunft wohl für mich bereithalten mochte.«
»Und du bist nach New York gezogen.«
»Ja. Habe ein wenig an der Wall Street herumgespielt und schließlich Southfield gegründet.«
»Du hast dich ziemlich gut eingelebt.« Ich hielt inne und schüttelte den Kopf.
»Was ist?«
»Ich fasse es nicht, dass ich dieses Gespräch führe. Das ist Wahnsinn. Träume ich? Bist du wirklich Julian Ashford? Der Julian Ashford?«
»Ich fürchte, ja.«
»›Halb begrabene Leichen, die Kiefer aufgerissen im stummen Schrei.‹ Das ist von dir?«
»Aha, du hast das Gedichtchen gefunden.«
»Oh, verschone mich, Julian! Gedichtchen.« Ich neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn. »Und du warst die ganze Zeit am Leben und hast in New York einen Hedgefonds geleitet?«
Er zuckte mit den Schultern. »Irgendwas musste ich ja tun.«
Ich lächelte. Ein Kichern entfuhr mir, dann noch eines. Im ersten Moment betrachtete Julian mich zweifelnd, bis auch seine Mundwinkel sich nach oben bogen. Immer noch lachend, beugte ich mich vor und legte die Stirn auf die Unterarme. »Tut mir leid«, keuchte ich. »Irgendwie ist es urkomisch. Ein Hedgefonds. Und was, glaubst du, macht dein Dichterkollege Rupert Brooke? Surft er in Baja?«
Mit einem leisen Lachen schüttelte Julian den Kopf. »Brooke ist ein Idiot.«
»Du kanntest ihn?« Ich richtete mich wieder auf und sah ihn, ein Knie aufs Sofa hochgezogen, an.
»Wir waren kurz zusammen in Cambridge.« Julian griff nach meiner Hand und fuhr mit den Fingern über meine Knöchel.
»Natürlich warst du das«, hauchte ich. »Du kanntest sie alle, stimmt’s? Wahrscheinlich warst du auch mit Churchill befreundet.«
»Nun, er war ein paar Jahre älter. Aber wir kannten uns.«
»Und wie war er als Mensch?«
Wieder ein Auflachen. »Ungefähr so, wie du ihn dir vorstellst. Hartnäckig. Vertrat immer seine Meinung. Hat Leben in jedes langweilige Abendessen gebracht.« Als Julian meine Fingerspitzen massierte, liefen mir Schauder den Arm hinauf. »Es hat mich ziemlich
Weitere Kostenlose Bücher