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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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gesagt.
    „Was glaubst du, was mit Joram passiert ist?“
    „Er ist weggeflogen“, sagte Anna-Lisa seelenruhig. „Kann ich Ihnen helfen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie den anderen Pinsel und fing am anderen Ende an, die Buchstaben zu reinigen.
    „Sag bitte Du zu mir. Ich bin Carly. Was meinst du mit weggeflogen?“
    „Er hat oft gesagt, er würde am liebsten mit den Gänsen wegfliegen und mit den Kranichen. Im Herbst stand er immer nur da und hat ihnen nachgesehen. Als ich noch kleiner war, hat er mir Nils Holgersson vorgelesen.“ Anna-Lisa pustete heftig in eine Rille, ein wenig Staub setzte sich auf ihre Stupsnase. „Und er hat erzählt, dass er einen Freund hat mit einem Segelflugzeug. Das würde er sich eines Tages ausleihen und damit so weit fliegen wie möglich. Er wollte herausfinden, wohin der Wind zieht und wo er aufhört, meinte er.“
    „Und du glaubst, das hat er gemacht?“
    „Bestimmt.“
    „Warum ist er nie wiedergekommen?“
    „Henny war ja dann nicht mehr da. Oder vielleicht hat er das Ende vom Wind noch nicht gefunden. Hast du Tee?“
    „Tee ist eine gute Idee.“
    Carly setzte den gemütlichen Teekessel auf. Beide pinselten in einträchtigem Schweigen am Schild herum, bis er pfiff.
    „Wo hast du denn den her?“, fragte Anna-Lisa empört, als sie den ersten Schluck getrunken hatte.
    „Aus eurem Supermarkt. Warum?“
    Anna-Lisa rümpfte die Nase.
    „So was hätte Henny nie gekauft. Das schmeckt doch nicht. Es gibt einen Teeladen im Dorf, da musst du hingehen!“
    „Versprochen. Mach ich. Aber jetzt können wir streichen.“
    Carly öffnete den weißen Farbtopf, rührte um und tauchte den Pinsel hinein. Anna-Lisa folgte ihrem Beispiel. Sorgfältig zogen sie Linie um Linie nach.

    „Weißt du, was das für Balken hier um die Terrasse sind?“, fragte Carly. „Hat Joram das gemacht?“
    „Ja, die hat er mit Henny alle vom Strand hergeschleppt, als die Buhnen neu gemacht wurden. Das sind die Balken von der alten Buhne. Sie waren nicht mehr fest genug. Die waren schrecklich schwer zu tragen, weil sie doch voller Salzwasser waren. Wie Schwämme, sagte Henny. Aber Joram meinte, das würde toll aussehen und zu Naurulokki passen. Er hat sie alle eingegraben, das hat ein paar Wochen gedauert. Henny hat sich gefreut, weil er dazu so oft hier war. Und es sieht wirklich toll aus.“
    „Ja, das tut es. Weißt du, was das runde Weiße ist?“
    „Das sind Seepocken. Wenn sie leben, strecken sie kleine Arme wie Federn aus ihren Schalen und fangen ihr Futter. Es sieht aus, als ob sie winken. Warst du noch nie am Meer?“
    „Doch. Doch, war ich. Aber das ist sehr lange her. So, das Schild muss jetzt trocknen. Glaubst du, es wird heute Nacht regnen? Lass es uns lieber auf die Loggia legen, da wird es nicht nass.“

    Nachts träumte Carly von der Schwalbe in ihrem Kreidebild. Sie flatterte, flog und wurde größer, immer größer, verwandelte sich erst in eine Wildgans, streckte sich dann und wurde ein Kranich. Auf ihr ritt jemand, ein Junge, nein, ein Mann. Sie kannte sein Gesicht – es war nicht Thore, nein, auch nicht Orje, es war – Ralph. Er segelte mit dem Wind, doch der Wind hatte kein Ende, er war bockig und schlug Wirbel, drückte den Kranich zu Boden: aber es war kein Boden, es war Meer! Es waren schäumende, spritzende, himmelhohe Wellen, und der Vogel stürzte, stürzte hinein, bis die Gischt ihn und seinen Reiter verschluckte. Carly wartete und wartete, doch nichts tauchte wieder auf. Der Wind aber schwieg jetzt und es blieb nur eine schwarze, tonlose Fläche.

Henny
1953

12. Der erste Preis
     

    Seltsam. Ein Sturm im Juli? Die Schafskälte war im Juni diesmal ausgeblieben; vielleicht hatte sie sich verspätet? Nadelscharf fuhr der Wind unter Hennys Kleid und schlug ihr ihren Zopf um die Ohren. Am Horizont glühte dunkelrot ein letzter Streifen vom späten Sonnenuntergang. Henny kniff die Augen zusammen. Lief da vorn nicht jemand? Eine Silhouette, gegen den Wind gebeugt?
    „Nicholas!“, schrie sie gegen das Brausen an.
    Es hätte ein Tag zum Feiern sein sollen. Henny hatte mit ihrer Bildserie vom Weststrand gewonnen bei der überregional bekannten Sommerausstellung im Kunstkaten. Mit diesem ersten Platz war nicht nur eine bedeutsame Anerkennung, sondern auch eine Geldsumme verbunden. Nicholas mit seinem Portrait in Öl von Henny hatte den dritten Platz ergattert und für ein anderes Gemälde von niedrig fliegenden Kranichen einen hervorragenden Preis erzielt. Myra

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