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Das Meer in deinem Namen

Das Meer in deinem Namen

Titel: Das Meer in deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Koelle
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gesagt.
    „Wieso eigentlich Fischchen?“, fragte Orje.
    Carly musste sich erst wieder darauf besinnen, dass es Worte gab, hangelte sich zurück in die Gegenwart.
    „Weil ich so gern im Wasser war. Und dann hatten wir dieses Ding am Laufen: Immer wenn Ralph oder ich sagten: ‚Das kann ich nicht’ oder ‚Das geht nicht’, antwortete unser Vater: ‚Sogar Fische können fliegen’, und dann holte er das Lexikon und zeigte uns das Bild von den fliegenden Fischen.“ Jetzt wusste sie es wieder.
    „Dann warst du also mal so ein kleiner Wasserfloh, der gerne schwimmen ging“, sagte Orje und stellte sich mit Vergnügen die sechsjährige Carly vor.
    Floh ...? Hatte er Floh gesagt? Das Wort sprang wie ein Flummi in ihrem Gedächtnis herum, auf der Suche nach etwas.
    Das Rauschen der Wellen war so nahe, so sanft und brausend und gewaltig und großartig zugleich. Damals hatte es dieses Rauschen nicht gegeben; alles war glatt und still gewesen. Die Katastrophe war lautlos und zunächst unbemerkt geschehen, nicht mit einem Knall und einem Scheppern wie man es von einem Unglück erwartet. Deshalb war es so schwer gewesen zu glauben, dass es überhaupt passiert war.

    Das Wasser kam Carlys Füßen näher, jede Welle trug etwas von dem angespülten Seetang wieder hinaus und mit ihm einen Teil von ihrer Unsicherheit, dem Gefühl, der Boden unter ihren Füßen wäre nicht sicher, nicht wirklich.
    Das Rauschen trug sie, berauschte sie, jetzt wusste sie, wo das Wort berauschen herkam. Sie hätte ewig zuhören können.
    Die Wellen spülten schließlich frei, wonach das Wort „Floh“ in ihr gesucht hatte. Die Stimme ihrer Mutter gesellte sich zu der ihres Vaters: „Floh! Komm endlich raus!“
    Und Ralphs Stimme, irgendwo aus dem Wasser: „Ich komm ja schon, gleich, noch eine Minute ...!“
    Das hatte sie völlig vergessen, dass Ralph so ein lebendiges Kind gewesen war, das nie stillsaß, ständig etwas plante und ausprobierte. Mit ihren kurzen Beinen hatte sie nie mit ihm Schritt halten können. Schwer zu glauben, wenn sie an den heutigen bedächtigen, vorsichtigen Ralph dachte, der nie etwas ohne Plan tat, wenn er es überhaupt wagte.
    Er musste sich früh geändert haben. Sicher genau an jenem Tag. Alles hatte sich geändert.
    Aber sie waren beide noch da. Fischchen und Floh.
    Sie würde den Floh in Ralph wiederfinden.
    Wie sie die Stimmen ihrer Eltern wiedergefunden hatte.
    „Das Meer gibt nicht alles zurück, was es nimmt“, hatte Daniel gesagt.
    Aber manches eben doch.
    Die Stimmen lebten noch, wenn auch lautlos. Wenn jemand tot ist, was geschieht mit seinen Worten? Die Worte sterben nicht, sie haben dieselbe Bedeutung wie zuvor. Sie verlieren nicht ihre Gültigkeit. Hennys Worte, Jorams Worte. Obwohl sie beide nicht gekannt hatte, waren auch sie lebendig in ihr und erklärten ihr etwas, änderten ihre Welt, warfen Lichter in sie.
    Wie der Tag auf das Meer.
    Orje hielt sie immer noch fest, aber auch die Sonnenwärme war schon so stark, als könnte man sich daran anlehnen.
    Sie drehte sich um, umarmte Orje. „Es ist so ... schön“, flüsterte sie. „Und“, sie sah erstaunt zu ihm auf, „ich habe Hunger!“
    Sie suchten sich ein Plätzchen in einer Kuhle vor den Dünen. Noch nie hatten ihr ein Honigbrot und ein Keks so geschmeckt, obwohl auch Sand zwischen ihren Zähnen knirschte. Sie spülte ihn mit Daniels „Küstensturm“ hinunter.
    Als sie den Becher absetzte, blieb ihr Ärmel an etwas hängen. Sie sah an sich herunter. Jorams Harke in ihrer Tasche! Sie zog sie heraus und hielt sie triumphierend hoch.
    „Es hat geklappt!“, sagte sie lachend.
    „Siehst du“, sagte Orje zufrieden. „Wir sind stolz auf dich, Joram und ich!“
    Die Möwe, zu der sich inzwischen eine weitere gesellt hatte, hüpfte hoffnungsvoll heran. Orje warf ihr einen Brotkrümel zu.
    Vor der Buhne sprang ein Fisch aus dem Wasser, eine kleine, fröhliche Silhouette vor all dem weiten Glitzern.
    Flieg, Fischchen!, dachte Carly.
    Warum nur hatte sie vergessen, dass das möglich war?
    Jetzt musste sie nur noch herausfinden wohin.

19. Ein toller Hecht
     

    „Wo fangen wir mit dem Aufräumen an?“, fragte Orje unternehmungslustig. „Nutze den Tag! Heute hast du einen Sklaven.“
    Carly sah sich zweifelnd um. Der Werktisch in der Küchenecke sah am wüstesten aus und der ominöse Herr Schnug wollte bestimmt die Küche sehen.
    Nein, er würde alles sehen wollen. Die Bibliothek war vollgestopft bis unter die Decke, und Bücherkisten waren

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