Das Meer in deinem Namen
schwer, da war es gut, wenn einer mit anfassen konnte. Dann war da noch das kleine Büro, in das sie bisher nur einen Blick geworfen und es angesichts der Papierhaufen schleunigst ignoriert hatte.
Thore hätte mit den Büchern begonnen.
„Fangen wir mit den Büchern an“, sagte sie also, „im Keller sind Kartons.“
Mit viel Gerumpel, weil dabei ein Stapel Treibholz umfiel, holten sie drei Kartons nach oben. „Thore“, schrieb Carly mit Filzstift auf einen, „Carly“ auf den zweiten und „Antiquariat oder Spende“ auf den dritten.
Weil Carly am besten wusste, was Thore würde haben wollen, reichte Orje ihr die Bücher stapelweise von oben herunter, während sie alles auf die Kartons verteilte. Er war dabei wesentlich schneller.
„Wenn du dich immer wieder festliest, kommen wir nicht weiter. Lesen kannst du das in Berlin!“
„Nee, das hier ist ja für Thores Kiste. Erich Fried, den mag er.“
Orje seufzte, bekam aber unvermutet Unterstützung von Carlys Handy, dessen Klingeln sie aus ihrer Lektüre riss. Sie lief nach draußen, dort war wenigstens rudimentärer Empfang.
„Das war dieser Herr Schnug!“, sagte Carly bekümmert, als sie eilig zurückkam, damit Orje nicht allzu viel heimlich in die Antiquariatskiste schmuggeln konnte. „Der will schon übermorgen Nachmittag kommen!“
„Dann lass uns weitermachen!“
Schweigend arbeiteten sie, während vor dem offenen Fenster die Bachstelzen zierlich in der steigenden Spätsommerwärme herumstaksten. Orje wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Du hast Spinnweben um die Ohren“, stellte Carly fest und zupfte sie fort. „Ich hole uns was zu trinken.“
„Nein, lass uns Pause machen. Ich muss an die Luft. Zwei Drittel haben wir geschafft.“
„Gute Idee. Ich muss auch nachsehen, ob ich Bettwäsche finde, damit ich dir Hennys Bett zurechtmachen kann.“
„Brauchst du nicht. Ich habe mein Zelt mitgebracht. Ich möchte endlich mal wieder in einem Zelt schlafen. Außerdem muss ich es testen. Ob es noch dicht ist und alle Stangen da sind. Miriam will es sich ausleihen.“
„Sie will wirklich nach Dänemark? Mit dir?“
„Um Himmels willen. Und so viel Urlaub habe ich auch nicht mehr.“ Fröhlich pfeifend verschwand er Richtung Auto.
Carly schmierte Brote, rührte eine Zitronenlimonade an. Aus dem Küchenfenster sah sie, wie Orje ein einigermaßen flaches Stück Rasen wählte und großzügig Stangen, Planen und Heringe um sich ausbreitete. Hinter ihm tauchte Anna-Lisa auf. Orje schüttelte ihr ernsthaft die Hand. Kurze Zeit später steckte Anna-Lisa den Kopf zum Fenster herein.
„Orje braucht einen Hammer“, sagte sie wichtig. Es hörte sich an, als würde sie Orje schon seit Jahren kennen. Carly verkniff sich ein Schmunzeln. So war es immer mit Orje und Kindern. Er konnte mit ihnen umgehen wie der Rattenfänger von Hameln. Sie händigte Anna-Lisa den Hammer aus.
So glücklich und vertieft wie die beiden mit den Stangen herumhantierten und versuchten, die Heringe tief genug in die sandige Erde zu schlagen, schienen sie nicht hungrig zu sein. Carly wollte sie nicht stören und ging zurück in die Bibliothek, um das letzte Regal auszuräumen. Inzwischen waren die Kartons voll, sie musste zwei weitere hinzunehmen. Traurig sahen die leeren Fächer aus. Der Blick der hölzernen Wildgans wirkte vorwurfsvoll.
Mit einem abgegriffenen englisch-deutschen Wörterbuch fiel ihr eine Seite aus einem Brief von Joram vor die Füße.
„... es ist wie Melancholie als Sucht für einige Zeit, in der die erschöpften Gedanken wieder Energie aufnehmen können. Ich kann diese Zustände schon aus meiner Kindheit erinnern. Dann habe ich gebastelt, anstatt mit den anderen zu spielen ...“
Aus der Ferne schmuggelte sich Anna-Lisas Lachen zwischen Jorams Worte, die einmal Henny gegolten hatten. Carly hatte das Gefühl, er spräche sie nun zu ihr, stünde hier neben den Kisten. Sie wusste, wie der junge Joram sich gefühlt hatte. Wie oft war sie früher von den anderen fortgelaufen, hatte sich eine Ecke unter der Hecke gesucht, wo sie allein sein konnte mit ihren Gedanken. Als hätte Joram diese gerade gelesen, fuhr er fort:
„Du sprichst von ‚einsam’ und ‚allein’ sein. Alleinsein bedeutet für mich absolute Ruhe, in der ich nur ich selber bin oder sein kann. Da stört mich niemand. Einsamsein geht komischerweise inmitten vieler Leute am besten, bevorzugt auf Partys mit Small-Talk – weswegen ich da ja auch nicht hingehe. Es ist für mich eine
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