Das Meer in Gold und Grau
Besonders gern in schlafwarme FüÃe. Wir haben uns nie gemocht, aber im Lauf der Zeit miteinander leben beziehungsweise ich mich vor ihren Angriffen hüten gelernt.
Ich duschte, wickelte ein Tempotaschentuch um den Zeh, zog mich an und fand nach einigem Suchen das Frühstückszimmer im ersten Stock, mit freier Sicht auf die Ostsee aus vier nebeneinanderliegenden Fenstern. Der Tisch war gedeckt mit feinem Porzellan, neben jedem Teller eine Stoffserviette im Silberring, auf reinweiÃer Tischwäsche standen frische Brötchen und Marmelade in handbeschrifteten Gläsern: Erdbeer-Rhabarber, Apfel-Ingwer-Zimt, Himbeer-Vanille. Jede für sich duftete köstlich. Dazu klang Klaviermusik und eine Ansage von NDR Kultur, der nach wenigen Minuten von der eintretenden Hausherrin mit einem gezielten Hieb auf das Radio ein Ende bereitet wurde.
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Unser tägliches Frühstücksszenario war ab dem zweiten Morgen eine ruhige Angelegenheit, hatte fast etwas Rituelles: Ruth mit ihrem Tagblatt stets auf demselben Platz am Fenster, ich gegenüber, gelegentlich Kaffee nachgieÃend, von der Tante mit einem Brummen quittiert, das man an guten Tagen für dankbar halten konnte. Elisabeth hatte zu der Zeit meist schon den Parkplatz gefegt, den Wäschetrockner bestückt oder das erste Blech Kuchen fertig, und mit etwas Glück kam sie mit einem warmen Streusel aus der Küche, verschwitzt und leicht bemehlt, und verlangte nach einer Testesserin. Wenn Ruth mit der Zeitung fertig war, konnte geredet und die Arbeit verteilt werden, auch an den Tagen, wo es nichts zu verteilen gab. Bis dahin durfte man sich für die Dauer einer Stunde in einem Hort der Verträglichkeit wähnen. Ich passte mein Erscheinen dem Ruths an: auÃerhalb der Saison um acht, während der Saison zwei Stunden früher. Niemand erwartete, dass man sich auch nur im Ansatz gesellig zeigte, jeder durfte die Klappe halten, wie Ruth es ausdrückte, Freiheit vom allgegenwärtigen Redezwang, groÃartig! Gestritten oder verhandelt wurde später. Und jeden Morgen, wenn ich die Rückseite des Tagblatts überflog, auf die See blickte, den Finger ins Marmeladenglas steckte, dachte ich: Heute bleibe ich noch, heute ist noch nicht der Tag zum Gehen, ich bleibe noch einen Tag und noch einen und noch einen. So können sich Wochen, Monate ansammeln, Jahre, ein Leben. Dazu ist es dann doch nicht gekommen.
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Aber noch war der erste Tag, das erste Frühstück, und ich war trotz einer sehr angenehm verbrachten Nacht nicht viel klüger, was meinen Werdegang auch nur für die nächsten Tage anging. Die See hatte sich beruhigt, lag geradezu harmlos ausgebreitet
in der Morgensonne und spiegelte glitzernd den mit Federwolken übersäten Himmel. Ruth schlürfte stumm lesend ihren Kaffee, ich kaute an einer Brötchenhälfte und fühlte mich als Eindringling, ein ungebetener Gast mit Blut im Schuh und der Hoffnung, die Zeche prellen zu können, wenn es irgendwie ging.
Elisabeth kam in den Frühstücksraum, wünschte guten Morgen, stellte eine Kanne Orangensaft und einen Teller Zimtschnecken vor mir ab, schob den Eierkorb zwischen die Marmeladentöpfe und nahm Platz.
Rosenöl, unwillkürlich musste ich an eine alte Nonne denken, Schwester Gertraud, die an unserer Schule Religion unterrichtet hatte. Elisabeth hat morgens immer danach gerochen, eine zarte Duftspur, die einen anwehte, wenn sie im Vorbeigehen »Guten Morgen, meine Liebe« sagte. Ich habe es kürzlich mal an mir ausprobiert, aber Frank fand, ich röche damit nach Altenheim.
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Ob ich gut geschlafen hätte bei dem Krach, fragte Elisabeth durch die Rosenduftspur, leider sei ich gestern im kleinsten und lautesten Dachzimmer gelandet, ich müsse entschuldigen, so mitten in der Nacht, da habe man nichts anderes mehr herrichten können.
»Nein, danke, ich meine, ja, also: Das Schwalbennest ist toll und die Aussicht geradezu atemberaubend«, stotterte ich.
»Nur dass man sich dafür erst auf einen Stuhl stellen muss.«
»Wenn ich mich strecke, komme ich auch so heran. Wirklich, ich fühle mich wohl dort. Es ist â¦Â«
Ruth raschelte mit der Zeitung, gab ein ungehaltenes Schnaufen von sich. Ich lächelte und hielt mir den Finger an die Lippen.
Elisabeth kicherte, »ihr versteht euch schon ganz gut«, und nahm sich ein Ei. Später erzählte sie flüsternd, dass der Schrank, der eine Wand
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