Das Meer in Gold und Grau
dir â¦Â«
»Tante! Es ist halb sechs Uhr morgens, du hast aller Wahrscheinlichkeit nach noch keinen Kaffee gehabt, kommst auf mein Zimmer und sprichst. Also: Willst du mir jetzt endlich sagen, was los ist?«
Sie sah mich scharf an.
»Eigentlich wollte ich dich darum bitten, genau das nicht tun zu müssen.«
Ich verstand überhaupt nichts und sagte: »In Ordnung.«
Ruths Gesicht entspannte sich wieder. Sie klopfte neben sich auf die Bettkante und sagte: »Hinsetzen!«
Als ich neben ihr Platz genommen hatte, legte sie mir den Arm um die Schulter, was mich endgültig aus dem Gleis brachte. Ich drehte den Zipfel meines Bettlakens in den Händen, spürte, wo ihre Finger auflagen, wartete, was kommen würde.
»Katia?«
»Ja?«
»Ich magâs, wenn du mich âºTanteâ¹ nennst.«
»Okay.«
Allmählich bekam ich Angst vor ihr.
»Das sagt sonst keiner zu mir.«
»Der schreckliche Bertram neulich.«
»Zählt nicht.«
»Aha.«
Sie räusperte sich, drückte etwas fester auf meine Schulter, räusperte sich erneut, nahm den Druck weg, kratzte sich am Hinterkopf. Ich wartete, Ruth schwieg, eine Ewigkeit von mindestens sechs oder sieben Minuten lang.
Dann drängte ein Gedanke in mein noch müdes Hirn, drehte sich hierhin und dorthin, breitete sich aus, wurde immer gröÃer, fetter, wahrscheinlicher. Ich dachte: Es könnte sein, es kann nichts anderes sein, es ist so, sprang auf und rief: »Der Bergedorfer ist gekommen! Der schöne Herr Doktor Fischer hat im Strandkorb gesessen, die halbe Nacht, und schwafelt jetzt von Liebe.«
Ich lief zum Schreibtisch, kam zurück, blieb vor der Tante stehen, strich mir die verfilzten Haare aus der Stirn.
Ruth sah zu mir auf, hob sehr langsam ihre Brauen und sagte: »Wer, um alles in der Welt, ist âºder schöne Herr Doktor Fischerâ¹?«
Ich lieà mich wieder aufs Bett fallen.
Ruth schaute mich an, sichtlich amüsiert.
»Jetzt musst du mich schon aufklären.«
»Das ist die Geschichte, die du lieber nicht hören wolltest.«
»Erzähl sie mir!«
Da saà ich, morgens um halb sieben auf einem verschwitzten Laken und packte aus: die ganze blöde Affäre, mitsamt dem
ebenso schmählichen wie lautstarken Ende. Ich ersparte mir, und vor allem der Tante, wenig.
Ruth hörte zu, ohne sich auch nur einmal zu rühren, schaute dabei auf ihre Knie wie nicht ganz bei sich, und nachdem ich endlich auch noch von meiner sich mit Verzweiflung füllenden Mailbox und von Manus Anrufen berichtet hatte, musste ich nach Luft schnappen.
Ruth sagte: »Fertig?«
Ich sagte: »So weit ja.«
Ruth sagte: »Jetzt brauche ich Kaffee!«
Sie erhob sich, ging bis zur Tür, blieb mit dem Rücken zu mir stehen: »Was hat dir der Doc genau erzählt?«
Ich war noch immer in meiner Geschichte und verstand nicht, was der alte Griesgram damit zu schaffen haben sollte.
»Der Doc? Wieso? Sollte ich vom Doc etwas wissen?«
Ruth verharrte mit der Hand auf dem Weg zur Klinke, gab ein eigenartiges kleines Geräusch von sich und sagte: »Danke, meine Liebe. Mach dir keine Sorgen.«
Die begann ich mir augenblicklich zu machen, wusste aber nicht, in welche Richtung sie zu gehen hatten. Ich blieb verwirrt auf meiner Bettkante sitzen und betrachtete den Rücken der Tante, aus dem spitz die Schulterblätter ragten.
Sie öffnete die Tür, trat auf die Schwelle, wandte sich um und sagte: »Könntest du dir vorstellen, für länger hier zu leben, ein bisschen im Palau Fuà zu fassen?«
Sie sprach gedämpft, schaute dabei knapp an mir vorbei.
Noch bevor mir eine passende Antwort eingefallen war, sagte sie: »Na dann«, lächelte und zog die Tür mit einem sanften Klack hinter sich zu. Ich starrte noch eine Weile auf die Holzmaserung, aber nichts rührte sich.
Zwanzig Minuten später hatte sie sich beim Frühstück hinter
dem Tagblatt verschanzt, und Elisabeth sagte bei meinem Erscheinen: »Heute verschlafen aber auch alle.«
Wir gingen nahtlos zum Alltagsprogramm über: Gäste wurden am Nachmittag erwartet, Zimmer mussten vorbereitet, die Rezeption zwischen dreizehn und siebzehn Uhr besetzt werden, und die Schranktür auf Zimmer neun klemmte auch schon wieder. Wenn ich noch Zeit fände, den Rasen vor dem Parkplatz zu mähen, wäre das wunderbar. Ich versprach, mein Bestes zu geben, und
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