Das Meer in Gold und Grau
die in der Kajüte auf besseres Wetter warteten. Ruth lieà sich phasenweise kaum bei den Gästen blicken. Die Tante verschwand dann, fuhr zum Einkaufen, reparierte Möbel, räumte Bücher von hier nach da, half Sergej wortkarg beim Kochen, ging über die Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen, oder spazierte allein über den Deich in Richtung Liefgaard, von wo sie erst nach Stunden wiederkam, ohne zu verraten, was sie dort gemacht hatte. An diesen Tagen konnte man fast sicher sein, abends den kleinen Glutpunkt im Strandkorb zwölf zu finden.
»Früher war das anders«, erzählte Heinrich, »auch da hatte sie gute und schlechte Tage, mal unterhielt sie alle mit ihren Geschichten, mal stauchte sie jeden zusammen, der ihr über den Weg lief, aber Ruth war mittendrin, bei ihr liefen alle Fäden zusammen. Sie kümmerte sich um jeden Gast, auf ihre eigene Weise, nannte es âºpersönliche Betreuungâ¹, und die meisten liebten sie dafür. Auch wenn sie die Leute anmaulte, war sie doch da, das Herzstück des Ganzen. Ich frage mich, was in diesem Sommer mit ihr los ist.«
»Vielleicht geht ihr meine Anwesenheit auf die Nerven.«
»Unsinn! So etwas solltest du nicht einmal denken!«
Heinrich sprach mit solchem Nachdruck, dass es mir leidtat, aber auch ein bisschen wohl.
»Erzähl mir mehr von Ruth, bitte.«
Heinrich rückte sich auf seinem Stuhl zurecht, erfreut, ums Erzählen gebeten worden zu sein.
»Um die Kinder kümmerte sie sich besonders, versammelte sie während der Sommerferien mittags um den eigens für sie bereitgestellten Tisch zu Bratkartoffeln und Schnitzel mit
selbstgemachtem Ketchup. Während die Erwachsenen eine Stunde später ausgeruht von Elisabeth zu Seezunge, Scholle, Makrele oder Hering gebeten wurden, tobte Ruth mit den Sprösslingen am Strand herum, lieà Drachen steigen und Indianer kämpfen, klebte Pflaster auf blutige Knie. Wir müssten irgendwo ganze Kisten von Urlaubsfotos haben, die uns die dankbaren Eltern geschickt haben.«
Bevor ich ihn weiter ausfragen konnte, erschien Ania, ätzte, dass wir wohl nichts zu tun hätten, und scheuchte mich an die Arbeit.
Ich hätte die mit einer Kinderschar über den Strand tobende Tante gerne gesehen.
»Es hat sich etwas verändert«, hatte Heinrich gesagt, und ich machte mir Gedanken, was es sein könnte. Ruth ist eine launische Person, dachte ich, sie wird nicht jünger, und wer weiÃ, was ihr zur Zeit über die Leber läuft. Wer sollte ahnen, was in ihr vorging?
Sie hat Zeichen gegeben, ja, aber nicht genug und auf keinen Fall wie jemand, dessen Tage gezählt sein könnten. Ruth, die jeder Stimmung nachgab, jede Laune augenblicklich umsetzte, versteckte sich in dieser Unbeständigkeit meisterhaft. Wir kamen ihr nicht drauf. Zwischendurch war sie immer wieder fröhlich und von einer Leichtigkeit, die uns demonstrieren sollte: Es ist alles in Ordnung.
Ich für meinen Teil glaubte das nur zu gerne.
Keiner ahnte, welchen Aufwand sie tatsächlich trieb für das, was sie »sich nicht hängen lassen« nannte, was es für sie selbst hieÃ, wenn sie forderte, angesichts zunehmenden Alters oder diverser »Zipperlein« auf keinen Fall jämmerlich zu werden und, wenn es irgend ging, auch nicht den Humor zu verlieren.
»Am Abgrund kommt es allein auf die Haltung an«, sagte sie und grinste breit.
Ich liebte sie dafür.
Ich wollte Ruth stark haben, wollte erleben, wie sie mit ihrer Zähigkeit die Zeit aufhielt und dem Verfall eine lange Nase machte. Die Sanduhr einfach wieder umgedreht und weitergemacht, allen Zweifeln zum Trotz.
»Meine Tante ist zäh«, sagte ich stolz, wenn sich die Gelegenheit ergab. »Die lässt sich von nichts unterkriegen!«
Wie ein Baum wünschte ich sie mir, verwachsen und zerzaust, aber unumstöÃlich, unsterblich und vor allem: furchtlos.
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»Lasst mich in Ruhe!«
Wir hielten die Luft an, wenn Ruth ihre verfinsterten Momente hatte, wir atmeten befreit auf, wenn sie sich wieder erhellte, und vergaÃen in Rekordgeschwindigkeit.
»Sie hätte uns früher mit einbeziehen sollen«, sagte Elisabeth.
»Was hätte das gebracht?«
Wir bekamen Zeit geschenkt, kostbare Tage, Wochen, Monate, für Alltagsgeschäfte, groÃe Pläne und Gedankenlosigkeit. Ein Aufschub, ohne den vieles nicht möglich gewesen wäre.
Ich möchte glauben,
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