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Das Meer in seinen Augen (German Edition)

Das Meer in seinen Augen (German Edition)

Titel: Das Meer in seinen Augen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L.B. Roth
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musste sich im Bad befinden. Wahrscheinlich war das jetzt seine einzige Gelegenheit unbemerkt zu flüchten. Sanft legte er seine Hand auf die Türklinke und übte zögerlich Druck aus. Es knarrte. Merlin hielt einen Moment inne. Mit angehaltenem Atem zog er die Tür schließlich auf. Das Knacken des Holzes ließ sein Herz galoppieren. Wie erstarrt blieb er stehen und horchte. Das Wasser lief immer noch und niemand schien ihn bemerkt zu haben. Schnell trat Merlin aus dem Zimmer und schloss die Tür wieder. Diesmal knarrte es lauter.
    »David?«
    Hitze schoss Merlin ins Gesicht. Die Stimme von Davids Mutter klang sehr nah. Hastig schlich er auf die Treppe zu. Das Wasser wurde abgedreht.
    »David?«, rief Davids Mutter erneut.
    Merlin trat auf die Holztreppe. Wie ein Blitz durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass er diese Treppe niemals geräuschlos hinunterkommen würde, auch wenn er auf Socken lief. Jetzt zählte nur noch Geschwindigkeit. Er ließ jegliche Vorsicht fahren und lief die Stufen einfach hinunter. Als er unten angekommen war, hörte er noch mal Davids Mutter rufen. Diesmal klang ihre Stimme lauter. Sicher war sie inzwischen aus dem Badezimmer heraus gekommen, um nach dem Rechten zu sehen.
    Merlin verhielt sich wieder einen Moment ruhig. Er konnte sich geradezu vorstellen, wie Frau Gessen oben im Morgenrock die Stirn runzelte und das Schlimmste befürchete. Nur dass sie eben niemals das tatsächlich Schlimmste erfassen würde, nämlich, dass der Verführer ihres Sohnes sich noch im Hause befand. Einen Augenblick überlegte er, ob er sich nicht die Schuhe anziehen sollte. Doch er entschied sich dagegen und schob sich langsam zur Tür. Dann hörte er oben plötzlich Schritte. Merlins Blut bekam einen erneuten Schub. Eilig zog er die Haustür auf, ohne sich Gedanken über eventuelle Geräusche zu machen.
    »Ansgar!«, rief Merlins Mutter plötzlich aufgebracht. Schritte polterten die Treppe hinunter. Merlin hastete raus. Für ihn zählte nur noch sein Entkommen. Ohne Rücksicht auf den Krach, zog er die Haustür hinter sich ins Schloss und lief los. Ein erster Impuls wollte ihn die Straße hinunter treiben, aber das wäre ein fataler Fehler gewesen, weil man ihn auf jeden Fall noch gesehen hätte. Also rannte er seinen Schulweg entlag, unter der Trauerweide her, den schmalen Weg runter zum Park. Erst, als er vor dem Schultor ankam, verschnaufte er. Außer Atem blieb er stehen und spürte langsam den Schmerz unter seinen Füßen. Er war einfach vollkommen panisch gelaufen, ohne auf Steine und Äste und was auch immer zu achten. Mit verkniffenem Gesicht schlug er sich den Dreck von den Fußsolen und zog sich seine Schuhe an. Dann ging er weiter. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch betrachtete er das leere Schulgebäude. Noch nie hatte er an einem Wochenende diesen Weg zurückgelegt. Sein Herz schlug immer noch einen wilden Rhythmus, während seine Füße nun dumpf pochten. Merlin sah sich um, obgleich er nicht glaubte, dass ihm die Gessens gefolgt waren. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu beruhigen und die Flucht zu verarbeiten. Die Luft war angenehm frisch, stellte er nach einer Weile fest und ging auf die Bushaltestelle zu, die sich am Ende der Straße befand. Als er sechs Minuten später dem Busfahrer seine Fahrkarte zeigte, fühlte er sich langsam wieder sicher. Mensch, das war ja wie im Krimi, dachte er. Was bei David jetzt wohl los war? Bestimmt würden seine Eltern ihm tausend Fragen stellen. Aber Merlin glaubte, dass sie ihn nicht gesehen hatten. David brauchte sich einfach nur unwissend stellen - und das würde er garantiert tun.
    Merlin setzte sich auf einen freien Platz und betrachtete die Häuser, die an ihm vorbeizogen. Eine solche Aktion, nur weil die Angst vor den Eltern zu groß war, um ihnen die eigene Homosexualität mitzuteilen. Merlin schüttelte den Kopf. Die Gessens schienen wirklich noch im Mittelalter zu leben.
    In der City stieg Merlin aus und ging durch die Einkaufspassage auf eine Bäckerei zu. Auf den Schreck brauchte er erst mal etwas zu Essen. Dann konnte er über alles nachdenken. Er kaufte eine große Tüte Brötchen und schlenderte weiter, bis er an eine Bank kam, die von zwei Bäumen und einem Brunnen eingerahmt wurde. Seit er David kannte, fiel ihm ständig auf, wie grün es in der Stadt überall war und wieviele Bänke es gab. Er setzte sich und biss in eines der Brötchen. Wie schön es gewesen wäre, dachte er, wenn sie bei ihm geschlafen hätten anstatt bei David.

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