Das Meer in seinen Augen (German Edition)
werden, was er überhaupt will«, sagte Ansgar und streichelte ihr über den Rücken. »Wer weiß, vielleicht ist er sich noch gar nicht so sicher, ob das Mädel die Richtige für ihn ist. Kann ja auch sein, dass er nur rumprobieren wollte und sie uns deshalb nicht vorgestellt hat.«
Hanne löste sich lachend von Ansgar. »Rumprobieren«, wiederholte sie.
»Genau das ist dein Problem«, sagte Ansgar bitter. »Du nimmst die Sache nicht wirklich ernst. Warum sollte der Junge zu dir kommen, wenn du ihn dann auslachst oder maßregelst?«
Hanne sah ihren Mann lange an. »Ich halte das nicht für richtig. Es ist doch meine Pflicht, ihm zu sagen, wenn er Fehler macht, oder?«
»Es ist vollkommen normal, dass man sich nicht sofort festlegt. Früher ist man vielleicht erst nach der Heirat miteinander in die Kiste gestiegen, aber das gilt heute schon lange nicht mehr.«
»Ich weiß, was heute gilt«, fauchte Hanne. »Du brauchst mich nicht für dumm verkaufen. Ich weiß sehr wohl, dass die Jugendlichen es miteinander treiben, wie es ihnen gerade passt. Aber das heißt noch lange nicht, dass David ebenfalls ...«, sie brach ab.
»Er muss seine Erfahrungen sammeln«, sagte Ansgar betont leise. »Und wenn du mich fragst, ist er eh schon spät dran.«
»Dich fragt aber keiner«, antwortete Hanne, »und jetzt lass mich das Essen vorbereiten!« Als sie sich umdrehte, spürte sie die Tränen in ihren Augen. Sie wollte doch nur das Beste für David, warum konnte er das nicht verstehen? Was brachte es schon, wenn der Junge mit irgend so einem Flittchen ins Bett stieg? Plötzlich fragte sie sich, wieso sich Ansgar so dafür einsetzte. Hatte er etwa damals auch schon mit anderen geschlafen? Hanne fühlte, wie ihre Wut wiederkehrte. So wie er redete, hielt er es ja für absolut richtig, wenn man sich erst mal an anderen austobte, bevor man mit dem eigentlichen Partner zusammenkam. Ein unerträglicher Gedanke. Gerade zur heutigen Zeit.
Als sie sich wieder umdrehte, war Ansgar aus der Küche verschwunden. Erleichtert atmete sie auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann hörte sie, wie ein Schlüssel in die Haustür geschoben wurde. David! Sofort legte sie den Kochlöffel weg und eilte in den Flur.
»Wo warst du?«, fragte sie, als David hereinkam.
Er sah sie mit großen Augen an.
»Was war das heute morgen?«, fügte sie an.
»Ich - ich war draußen«, antwortete David und schob sich an ihr vorbei.
Hanne sah ihm hinterher. Am liebsten wäre sie ihm die Treppe hinauf gefolgt und hätte ihn zur Rede gestellt. Aber Ansgar stand plötzlich im Türrahmen zum Wohnzimmer und warf ihr düstere Blicke zu.
»Was?«, fragte sie gereizt.
Ansgar schüttelte den Kopf und verschwand wieder.
Was erwartete er eigentlich von ihr? Sie konnte sich doch nicht hinsetzen und das alles so hinnehmen! Eilig stieg sie die Treppe hinauf und klopfte an Davids Tür. Keine Antwort.
»David?«, fragte sie und betrat das Zimmer. Ihr Sohn lag auf dem Bett und hatte das Gesicht in sein Kopfkissen vergraben. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht Liebeskummer hatte. Nicht, wie Ansgar vermutete, ein sexuelles Abenteuer. Sie ärgerte sich immer noch über diese absolut bescheuerte Vermutung. David war nicht einer von diesen Jugendlichen.
»David?«, fragte sie nochmal, aber mit deutlich sanfterem Tonfall. »Sag mir bitte was los ist.«
»Ich will allein sein«, murmelte er, ohne den Kopf aus dem Kissen zu nehmen.
»Ich möchte mit dir reden, Davi«, sagte sie und trat ans Bett. »Ich möchte, dass du mir sagst, wer heute Nacht bei dir gewesen ist. Es ist doch nicht schlimm.«
David drehte sich um und sah sie aus geröteten Augen an. »Ich will einfach nur ein bisschen allein sein, okay?«
Hanne wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Verzweifelt sah sie sich im Zimmer um. Vielleicht hatte Ansgar doch recht? Vielleicht wollte David ihr nichts sagen, weil sie immer nachfragte? Aber das konnte sie sich einfach nicht dulden. Plötzlich blieb ihr Blick auf dem Boden hängen.
»Was ist das?«, fragte sie, obwohl sie selbstverständlich wusste, was es war. Vielmehr wollte sie wissen, was es in Davids Zimmer neben dem Bett zu suchen hatte. Ihr wurde heiß.
59
David sah es schon an ihrem Blick, dass sie etwas entdeckt hatte, was sie auf keinen Fall hätte entdecken dürfen. Schnell setzte er sich auf, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit seiner Mutter beanspruchte. Und dann stieg ihm die Röte ins Gesicht. Auf dem Boden, gleich
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