Das Meer in seinen Augen (German Edition)
gleich nach, okay?«
David nickte und verschwand aus dem Rahmen der Küchentür. Selma wartete noch einen Moment, bis sie seine Schritte auf der Treppe hörte, dann stieß sie Paolo an.
»Was soll das eigentlich?«, fauchte sie. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen.
Er sah sie mit großen Augen an und tat unschuldig. »Was denn?«
»Warum bist du so gemein zu dem Jungen?«, fragte sie. »Er hat es echt nicht leicht mit seinen Eltern und ich finde, dass wir ihn ruhig ein wenig unterstützen könnten. Immerhin ist er Merlins Freund.«
»Ach, ist er das?«
»Jetzt tu nicht so, als wüsstest du davon nichts!« Diese Dummheitsmasche regte sie unglaublich auf. Wieso machte er das?
»Was hast du gegen den Jungen?«, fragte Selma und drückte Paolo mit ihrem Blick gegen die Wand.
»Frag Merlin«, antwortete er leise.
»Bitte was?« Sie war sich nicht sicher, ob sie seine Worte richtig verstanden hatte. Irgendwie ergab das keinen Sinn.
»Ich sagte, dass ich nichts gegen den Jungen habe. Soll ich uns einen Tee machen?« Er streifte ihr über die Wange. »Ich glaube, dass wir in letzter Zeit nicht wirklich viel für uns getan haben, was?«
Plötzlich überzog ein wohliges Kribbeln ihre gesamte Haut. Hoffnung! Das alles funktionierte nur, weil sie noch Hoffnung hatte. Sie dachte an ihr Vorhaben, diese Beziehung zu beenden. Wollte sie sich wirklich noch mal auf ihn einlassen? Er hatte sie nicht mal zu Wort kommen lassen! Aber war das so schlimm, wenn er selbst nun die richtigen Worte sagte? Sie ergab sich ihren Wunschvorstellungen und umarmte ihn.
»Ja, mach uns deine Spezialmischung«, flüsterte sie und zitterte. »Und sei ein wenig nett zu David, okay?«
»Ich werde mir Mühe geben«, hauchte er in ihr Ohr.
70
David horchte noch einen Moment nach unten, bevor er Merlins Zimmer betrat. Es lag noch alles so, wie er es verlassen hatte. Augenblicklich wurde ihm kalt. Dieser Raum hatte plötzlich etwas Unheimliches an sich. Das Leben fehlte. Und die Tatsache, dass sich seit gestern nichts verändert hatte, verstärkte sein unbestimmtes Gefühl, dass Merlin nicht wieder zurückkommen würde. Er schloss die Tür hinter sich und versuchte, seine düsteren Gedanken abzuschütteln. Jetzt war er hier und würde diesem Zimmer Leben einhauchen und auf Merlin warten. Das hatte Selma gesagt, und Selma hatte immer recht, dachte er. Erschöpft ließ er sich auf das Bett fallen. Erst jetzt spürte er die Müdigkeit. Tief atmete er den Geruch der Bettwäsche ein, die nach Merlin roch und schloss die Augen. Am liebsten würde er für heute nicht mehr aufstehen, sondern einfach liegenbleiben. Aber irgendwann musste er auch wieder rüber in sein Zuhause. Bei dem Gedanken zog er die Stirn in Falten und spürte ein leichtes Wummern in seinen Schläfen. Musste er wirklich wieder zurück? Wie gern würde er einfach hier bleiben und mit Merlin für alle Zeiten in diesem Bett liegen. Aber Merlin war erstens nicht da und zweitens musste er selbst spätestens morgen früh rüber und seine Schulsachen holen bevor er zur Schule ging. David drehte genervt den Kopf auf die andere Seite. Warum machte man sich all diese schwachsinnigen Gedanken, wenn sie einen doch eh nicht weiterbrachten? Immer wieder ließ man sich dazu hinreißen, bestimmte Situationen nicht einfach zu genießen, sondern sie mit dem Gedanken an ein baldiges Ende zu verderben. Die Idee, dass ein Moment für immer verweilen sollte, gehörte ganz sicher dazu. Genau in dem Augenblick, da man sich ein Immer wünschte, setzte man dem gerade Erlebten ein Ende, oder wurde sich diesem Ende viel mehr bewusst. Die Zeit, die man vor dem erwarteten oder nach dem erlebten Moment verbrachte, wurde so unweigerlich zum Hauptbestandteil. Letztlich war es genau so. Die schönen Zeiten vergingen rasend schnell und die ätzenden dehnten sich bis zur Unerträglichkeit aus. David nahm sich vor, den Augenblick, in dem Merlin hereinkommen und sich zu ihm legen würde, ganz bewusst zu genießen, ohne dabei an seine Eltern oder die Schule oder sonst was zu denken. Bis dahin blieb ihm allerdings nichts anderes, als zu warten und aus dem Fenster in den dunklen Himmel zu schauen. Er seufzte.
Hinter ihm ging die Tür leise auf. Er hörte vorsichtige Schritte. Dann sackte die Matratze neben ihm ein Stück nach unten und eine Hand legte sich auf seinen Kopf, um durch sein Haar zu streicheln.
»Da bin ich ja mit meinen Ratschlägen gerade noch rechtzeitig gewesen, was?«, sagte Selma in
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