Das Meer in seinen Augen (German Edition)
nach Neuss.
»Eigentlich ist es ja eine Schande, überhaupt in Richtung Düsseldorf fahren zu müssen«, sagte Christian plötzlich und zwinkerte ihm zu.
Merlin schaute ihn verwirrt an. »Warum?«
Christian verdrehte die Augen. »Schon gut, schlaf weiter.«
Erst jetzt fiel Merlin die ewige Fehde zwischen Düsseldorf und Köln ein. Er lächelte. Christian wollte ihn wohl auf andere Gedanken bringen. Doch in seinem Kopf war momentan nur Platz für das bevorstehende Gespräch mit seiner Mutter und natürlich David. Er überlegte, ob er heute noch zu ihm rübergehen konnte, ohne dass er gleich wieder seine Eltern aufrüttelte. Wahrscheinlich nicht - oder ganz bestimmt nicht. Also sahen seine Aussichten für den heutigen Abend ziemlich schlecht aus.
»Sag bloß, du hättest mich nicht nach Hause gefahren, wenn ich in Düsseldorf wohnen würde«, ging Merlin schließlich doch auf die Ablenkung ein.
»Natürlich nicht«, sagte Christian und lachte. »Ich glaube, dann würde ich gar nicht erst mit dir befreundet sein.
Merlin sah ihn prüfend an. Irgendwie konnte er sich nicht überzeugen, dass der offensichtliche Spaß nicht doch einen ernsten Kern hatte.
»Ist das nicht ziemlich albern?«, fragte Merlin nach kurzem Überlegen.
»Bitte?«, rief Christian aufgebracht. »Langsam bekomm ich aber echt das Gefühl, dass du mir zu nah an dem Dorf wohnst!«
Merlin lachte. »Köln ist auch nicht gerade schön«, sagte er und wusste, dass er damit Christians Lokalpatriotismus nur noch mehr anstachelte.
»Pass mal auf«, fing Christian an, »wenn du noch mal ...« Er brach ab, um nur noch energischer zu sagen: »Ach, was rede ich überhaupt noch mit dir!«
Merlin kicherte. Nach einer Weile stellte er aber fest, dass Christian wirklich nichts mehr sagte und hing wieder seinen Gedanken nach.
Als sie schließlich von der Autobahn abfuhren, sagte Christian: »Gleich sind wir da, noch hast du die Gelegenheit, wieder mitzukommen.«
»Chris!«, sagte Merlin und bemerkte, dass er wirklich sauer klang. Er korrigierte seinen Ton und sagte sanft: »Das macht es mir nicht einfacher. Es ist gut zu wissen, dass ich zu dir kann, wenn nichts mehr geht. Aber das ändert nichts daran, dass ich es klären muss.«
Christian nickte und lenkte den Wagen in Merlins Straße. Als sie vor dem Haus hielten, sah er ihn lange an.
»Was ist?«, fragte Merlin schließlich unsicher.
»Es hätte mit uns nicht geklappt, weil wir zu verschieden sind«, sagte Christian plötzlich. »Ich glaube, wir würden uns andauernd wegen Kleinigkeiten streiten.«
Merlin schmunzelte. »Vielleicht bist du mir auch einfach zu alt, wie wärs damit?«
»Und du mir zu dumm«, antwortete Christian und deutete einen Schlag an.
»Kölner!«
»Neusser, beinahe Düsseldorfer!«
Merlin stieg aus und beugte sich noch mal zur Tür hinein. »Trotzdem Danke«, sagte er. »Und wegen der anderen Sache: Du hast recht.«
Christian nickte. »Ruf an, oder schreib mir, okay?«
»Ja«, sagte Merlin. Dann schlug er die Wagentür zu und drehte sich um. Mittlerweise war es ganz dunkel. Dennoch brannte im Haus kein Licht. Verstohlen warf er einen Blick auf die gegenüberliegende Seite. Auch da lag alles im Dunkeln. Plötzlich musste er an einen dieser verrückten Zombiefilme denken. Da stand er ganz allein auf der Straße und der letzte lebende Mensch fuhr soeben fort. Eine seltsame Vorstellung. Aber letztlich fühlte er sich genau so. Noch mal sah er zu Davids Zimmer rauf. Alles dunkel. Nicht der Schimmer einer Lampe war zu sehen. Ob er wirklich schon schlief? Einerseits mussten sie morgen früh in die Schule, andererseits konnte sich Merlin nicht vorstellen, dass man in dem Alter schon so früh ins Bett ging. Es sei denn, es ging einem nicht gut. Mit einem schlechten Gewissen wandte er sich ab und ging zur Haustür. Vorsichtig schob er den Schlüssel ins Schloss und betrat sein Zuhause. Aus dem Wohnzimmer hörte er die dumpfen Geräusche eines Fernsehers. Leise schlich er sich zur Wohnzimmertür, die wie immer lediglich angelehnt war. Ganz langsam näherte er sich dem Türrahmen und spähte um die Ecke. Paolo saß allein auf der Couch. Merlin wusste nicht, was er davon halten sollte. Für normal saßen er und seine Mutter abends immer gemeinsam vor dem Fernseher. Plötzlich richtete Paolo seine Augen direkt auf ihn. Merlin erschrak und wich zurück. Aber es war zu spät. Er wusste, dass Paolo ihn gesehen hatte. Trotzdem blieb er einen Augenblick reglos stehen und schloss die Augen.
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