Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Dann zog er überrascht die Augenbrauen hoch, als er auch David hereinkommen sah. »Ah, noch einer!«
»Wir haben die Bahn verpasst«, sagte Merlin, woraufhin die ganze Klasse lachte.
Hürling runzelte die Stirn. »Wohnen Sie nicht gleich nebenan?«
»Ja, schon, aber wer sagt denn, dass man immer im eigenen Bett schlafen muss?« Merlin sah seinen Lehrer frech an.
»Nette Ausrede«, sagte Hürling und notierte die Fehlzeit im Klassenbuch. Dann richtete er sich an David: »Und in welchem Bett haben Sie geschlafen?«
David wurde augenblicklich rot und sah sich hilflos nach Merlin um.
»Sie sind aber neugierig, Herr Hürling«, sagte Merlin schnell. Die Panik in Davids Augen ließ ihn sofort ein schlechtes Gewissen bekommen. Vielleicht hätte er sich besser einfach nur entschuldigen sollen, anstatt den Clown zu spielen.
»Wenn Sie möchten, können Sie mir Details über Ihr Privatleben gern heute Nachmittag in meinem Büro erzählen«, sagte Hürling und sah ihn stechend an. »Ich bin mir sicher, dass ich Sie im Anschluss daran mit ein paar mathematischen Aufgaben auf andere Gedanken bringen kann.«
»Das wäre aber zuviel des Guten, meinen Sie nicht auch?«, sagte Merlin noch keck, aber seine Aufmerksamkeit galt längst David, der sich an ihm vorbei geschoben und an seinen Platz gesetzt hatte.
»Wenn Sie jetzt die Ehre haben wollen, dann tun Sie es bitte Ihrem Leidensgenossen gleich, setzen sich und halten den Unterricht nicht länger auf!«, sagte Hürling.
Merlin schluckte. Was sollte das denn jetzt heißen? Kurz sah er zu Linda rüber, deren Mund fassungslos aufklappte. Also hatte er das richtig verstanden mit den Leidensgenossen? David war knallrot. Plötzlich kochte in Merlin Wut auf.
»Von welchen Leiden sprechen Sie genau?«, fragte er scharf. Unmittelbar war er in Kampfbereitschaft. Hatte Hürling tatsächlich auf sein Schwulsein angespielt und David auch noch mit reingezogen? Sofort wurde sich Merlin aber bewusst, dass er nichts anderes provoziert hatte. Er selbst hatte David mit ins Boot gezerrt, indem er sich hier so frech präsentierte. Das war die Ausgelassenheit eines Verliebten. Natürlich mussten sich die anderen ihren Teil dazu denken - und Hürling hatte es ebenfalls verstanden. Aber gab ihm das das Recht zu einer solchen Äußerung?
»Ich rede von ihrer Krankheit«, sagte Hürling hart. »Langsam scheint mir das an dieser Schule wirklich eine Seuche zu werden.« Er sah kurz zu David, dann wieder zu ihm. »Und jetzt setzen Sie sich endlich!«
»Was soll der Mist?«, rief Linda plötzlich und sprang auf.
»Wie kann ich Ihnen jetzt helfen?«, fragte Hürling liebenswürdig. »Offensichtlich scheint die Mathematik hier nicht mehr von sonderlichem ...«
»Wann sind Sie eigentlich geboren?« Linda sah ihren Lehrer angriffslustig an.
»Ich wüsste nicht, was das jetzt zur Sache tut«, sagte Hürling zäh.
»Also Ihrer Aussage nach müssen Sie schon ein paar Jahre älter sein. Damals wurde Homosexualität ja wirklich noch als Krankheit angesehen. Aber die Zeiten ändern sich ja glücklicherweise und man muss nicht mehr befürchten, als Schwuler gleich im Klassenraum hingerichtet zu werden.«
Hürling sah sie lange an. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich, verlor an Härte, und er sah kurz zu Merlin rüber. Er nickte. »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte er nachdenklich. »Aber trotzdem muss ich Sie korrigieren. So lange ist es noch gar nicht her, dass Homosexualität als Straftat geahndet wurde.« Er räusperte sich. Plötzlich sah er peinlich berührt aus. »Ich meinte mit der Krankheit das chronische Zuspätkommen, das an dieser Schule um sich greift.« Er sah wieder zu Linda. »Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen.«
Linda sah sprachlos zu Merlin und wieder zurück zur Lehrkraft. Irgendwie machte es den Eindruck, dass sie am liebsten doch noch etwas gesagt hätte, aber letztlich zuckte sie die Schultern, nickte und setzte sich wieder.
Im Klassenraum herrschte absolute Stille. Vorsichtig setzte sich Merlin in Bewegung. David verkroch sich in seinem Mathebuch. Als Merlin sich endlich auf seinen Stuhl niederließ, schrieb Hürling gerade eine Formel an die Tafel. Die Augen seiner Mitschüler waren aber nach hinten, auf ihn und David gerichtet. Nur Linda schaute angestrengt nach vorn.
»So, wenn jetzt noch mal alle ihre Aufmerksamkeit nach vorn richten könnten ...«, sagte Hürling schließlich und beendete die unangenehme Situation. Dann fing er an, seine Formel zu
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