Das Meer in seinen Augen (German Edition)
verließ er das Haus, bevor sie sich doch noch umentscheiden konnte. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, hatte es etwas Endgültiges. Er stellte sich vor, wie es wäre, seine Eltern zu verlassen, einfach nicht mehr zurückzukommen. Ob er das wohl so einfach könnte? Dann schaute er wieder auf die Uhr. Er war jetzt mittlerweile fast zehn Minuten zu spät. Merlin saß sicher schon in der Klasse. Mit hastigen Schritten ging David auf die Trauerweide zu. Er zwang sich, geradeauszugucken, obwohl er den Blick seiner Mutter auf sich spürte. Wahrscheinlich erwartete sie von ihm, dass er zumindest noch mal zu ihr hineinsah und womöglich einen entschuldigenden Ausdruck aufgesetzte. Das würde er aber auf keinen Fall tun. Er musste sich endlich mal gegen seine Mutter durchsetzen. Er bezweifelte nur, dass ihm das so einfach gelingen würde.
Als er den Weg zur Wiese hinunterging, ging ihm wieder die Empfehlung seiner Mutter durch den Kopf, dass er besser in seinem eigenen Bett schlafen sollte. Es war lediglich eine banale Aussage, aber er kannte den Gedanken, der dahintersteckte. Und die Taktik seiner Mutter funktionierte. Sie versuchte ihn zu manipulieren. Wenn er überlegte, bestand eigentlich alles, was sie ihm sagte, aus versteckten Hinweisen, wie er sich am Besten zu verhalten hatte. Und wenn er sich nicht entsprechend verhielt, versuchte sie es mit ihren Taktiken. Die abweisende Art von heute morgen war letztlich auch nur ein Versuch, ihn das machen zu lassen, was sie wollte. Er sollte spüren, wie es sein würde, sie nicht mehr auf seiner Seite zu haben. Bisher hatte es wirklich immer funktioniert. Doch heute ließ ihn das kalt, auch wenn er gewohnheitsmäßig darauf reagieren wollte. Er würde sich einfach verbieten, auf ihre Masche hereinzufallen. Wenn sie ihm die kalte Schulter zeigen wollte, sollte sie das nur tun. Er würde ihr beweisen, dass es ihm nichts mehr ausmachte. David hatte jetzt Merlin. Und der würde zu ihm stehen, egal was da noch kommen mochte. Da war er sich sicher.
»Hey«, sagte Merlin plötzlich und zog ihn herum.
David fuhr zusammen. Aber als er das Gesicht seines Freundes sah, folgte dem Schreck eine Welle der Hochstimmung.
»Du bist an mir vorbeigegangen!« Merlin machte ein böses Gesicht, lächelte dann aber. »Ich hab auf unserer Bank auf dich gewartet und du gehst einfach so vorbei.«
Irritiert sah David Merlin in die Augen. »Du hast ja keine Kontaktlinsen drin!«
Merlin lächelte.
74
Vor der Klassentür blieb Merlin noch mal stehen. In Davids Gesicht sah er Anspannung - aber auch Glück.
»Was ist?«, fragte Merlin ohne einen Grund. Er wollte nur Davids Stimme noch mal hören, bevor sie in den Alltag abtauchten.
»Wir sind zu spät«, flüsterte David nervös. »Ich hasse es, wenn mich alle anstarren.«
Merlin lächelte. Dann griff er nach Davids Hand und wollte ihn an sich ziehen. Aber David hielt sich zurück.
»Nicht«, sagte er und sah sich um, ob auch keiner diesen Annäherungsversuch beobachtet hatte. »Nicht in der Schule, okay?« In seiner Stimme steckte Angst, ja fast Panik.
»Es ist aber niemand hier, der uns sehen könnte«, sagte Merlin kaum hörbar und zog wieder an Davids Hand. Erneut schaute sich David um, aber diesmal gab er nach. Schnell drückte er seinen Mund auf den von Merlin und zog sich sofort zurück.
»Hey«, protestierte der. »Das war aber nicht genug.«
David kicherte. »Jetzt hör auf.«
»Aber ich muss bis nach der Schule warten, bis ich dich wieder küssen darf. Das ist viel zu lang.«
Langsam ließ sich David noch mal heranziehen. Merlin legte seine Arme um ihn und griff an den wunderbar in Jeans verpackten Hintern. Ihre Lippen trafen sich wieder. Und diesmal verweilten sie lange genug, dass das Kribbeln überspringen konnte.
»Mmh«, machte Merlin leise und schob vorsichtig seine Zunge in Davids Mund. Für einen Moment spielten sie miteinander. Dann entfernte sich David wieder.
»So, das muss reichen.«
»Schade«, sagte Merlin. »Ich könnte den ganzen Tag hier stehen bleiben und mit dir knutschen.«
David bedeutete ihm leise zu sein.
»Okay«, flüsterte Merlin und machte eine beschwichtigende Geste. »Keine Panik.« Er zwinkerte seinem Freund zu. David schien noch irgendwas sagen zu wollen, aber Merlin hatte bereits die Türklinke runtergedrückt. Er machte ein fragendes Gesicht, aber David winkte ab. Also zog er die Tür auf und sah in Herr Hürlings düsteres Gesicht.
»Sind Sie auch endlich erwacht?«, fragte der.
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