Das Meer in seinen Augen (German Edition)
man denn den Autofahrer belangen könne und sprach seiner Frau tröstend zu.
Selma wunderte sich, mit welcher Selbstverständlichkeit die beiden davon ausgingen, dass andere an dieser Situation Schuld trugen und nicht ihr eigener Sohn. Solche Eltern hatte sie in ihrem Leben schon häufig kennen und hassen gelernt. Erstaunlich, dass gerade bei diesen ein so sympathischer Junge herausgekommen war, dachte sie.
»Ich werde mich dann mal auf den Weg machen«, verabschiedete sie sich.
»Frau Nagy?«, hielt Ansgar sie zurück. Als sie sich umdrehte, war sein Gesicht eine Maske aus Stein.
»Was haben Sie eigentlich mit dem Unfall zu tun?«
Selma spürte von jetzt auf gleich Wut in sich aufsteigen. »Ich stand zufällig an der Ampel, die Ihr Sohn missachtet hat«, sagte sie kalt. Jetzt hatte sie es also doch gesagt. Sofort stellte sich ein schlechtes Gewissen ein, obwohl das eigentlich unnötig war. Diese Tatsache wäre ohnehin herausgekommen.
Ansgar sah sie entgeistert an, als könnte er nicht glauben, dass sein Sohn bei rot über die Straße lief.
»Wie mir scheint, ist bei ihrer Erziehung doch noch einiges mehr schiefgelaufen, als das unterdrücken anderer Lebensweisen.« Selma drehte sich um und ging. Wie konnten diese Menschen nur so unglaublich verbohrt sein? Als sie den Krankenhausgeruch hinter sich ließ und wieder frische Luft einatmete, schämte sie sich aber für ihr Verhalten. Vielleicht hatte sie doch ein wenig dick aufgetragen. Aber möglicherweise war ja genau das, was sie da angesprochen hatte, der Grund für diesen Unfall. Vor irgendwas war David geflüchtet, da war sie sich sicher. Und vor was sollte er flüchten, wenn nicht vor diesen Eltern? Selma rief sich ins Gedächtnis, dass sie jetzt in diesem Moment nicht einen Deut besser war, als die Gessens. Sie erinnerte sich wieder an das, was sie kurz nach dem Unfall gedacht hatte: David musste sich mit Merlin gestritten haben. Wie sie auf diese Idee gekommen war, konnte sie sich nicht erklären. Aber bisher waren es immer ihre ersten Vermutungen gewesen, die sich später als richtig herausgestellt hatten.
Etwa zwanzig Minuten später betrat sie das Haus. Sie stellte ihre Tasche ab und blieb einen Moment stehen. Alles war still. Sie schaute auf die Uhr. Es war schon spät und zumindest Paolo müsste zu Hause sein. Sie stieg die Treppen hoch und blieb kurz vor Merlins Tür stehen. Er hatte sie geschlossen, also war er auch da. Jetzt war sie sich ziemlich sicher, dass zwischen ihm und David etwas vorgefallen war. Das spürte sie. Dann ging sie erst mal ihre Sporttasche entleeren. Ein Blick in den Badezimmerspiegel bestätigte, dass sie so aussah, wie sie sich fühlte. Sie beschloss, heute früh zu Bett zu gehen. Als sie eine Viertelstunde später ins Schlafzimmer trat, erschrak sie. Paolo lag schon dort und schlief offenbar. Um diese Zeit? Es war nicht mal zehn!
»Paolo?«, fragte sie leise.
»Hmm?«, machte er und drehte sich zu ihr um. Er las ein Buch. Wann hatte er das schon mal getan?
»Alles in Ordnung?« Sie spürte, dass ihr Herz schneller schlug. Irgendwas stimmte hier nicht.
»Ich habe Kopfschmerzen«, sagte Paolo, aber Selma hatte sofort den Verdacht, dass das gelogen war.
»Wo ist Merlin?«, fragte sie unsinnigerweise.
»In seinem Zimmer. Ich glaube, ihm geht es nicht so gut. Er schläft.«
Selma nickte. Trotzdem ging sie noch zu Merlin hinüber. Vorsichtig öffnete sie die Tür und schaute in sein Zimmer. In der Tat lag er zusammengerollt auf seinem Bett und schlief. Für einen Moment dachte Selma darüber nach, ihn zu wecken. Aber dann entschied sie sich dagegen. Sie konnte ihn auch morgen noch fragen, was vorgefallen war. Bevor sie die Tür wieder schloss, hielt sie noch mal inne. Vielleicht sollte sie ihn doch wecken und ihm sagen, was mit David passiert war? Einen Moment stand sie unschlüssig mit der Klinke in der Hand im Türspalt. Nein, auch das hatte Zeit bis morgen, entschied sie schließlich und ging ins Bett. Sie fühlte sich seltsam. Das war heute alles ein wenig viel, dachte sie und war froh, dass Paolo sie nicht ansprach.
Dienstag
Schon wieder
Ich ließ mich wieder
Von ihm fangen
Wollte stark sein
Ihm widerstehen
Doch sein Verlangen
Ließ mich
Dich wieder
Hintergehen
M. Nagy
86
Nach dem Aufwachen vermutete Merlin krank zu sein. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so lange geschlafen hatte. Sein Wecker zeigte ihm eine Uhrzeit, die ihm wiedermal eine Verspätung versicherte. Aber vielleicht würde
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