Das Meer in seinen Augen (German Edition)
er heute gar nicht erst zur Schule gehen. Seine Beine taten weh vom langen Liegen und sein Kopf machte einen leicht fiebrigen Eindruck. Angeekelt schob er die verschwitzte Bettdecke von sich weg und stand auf. Er taumelte aufs Bad zu. Wie immer war das Haus in der Frühe still und er versuchte, leise zu sein, damit seine Mutter nicht aufwachte. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich und betrachtete sein Spiegelbild in dem großen Badezimmerspiegel. In der Tat sah er zerknautscht und nicht ganz beieinander aus. Sofort stützte er sich mit den Händen aufs Waschbecken auf, was ihm noch mehr das Gefühl gab, nicht Herr über seinen Körper zu sein. Er dachte einen Moment darüber nach, was wäre, wenn er jetzt einfach zusammenbrechen und sterben würde. Seine Mutter würde ihn wohl frühestens in einer Stunde entdecken. Plötzlich fragte er sich, ob sie wie jede andere Mutter reagieren würde, oder ob sie auch in dieser Situation Ruhe bewahren konnte. Er schüttelte den Kopf. Wie kam er eigentlich immer auf so einen Mist? Langsam sollte er sich wirklich mal Gedanken über einen Besuch beim Psychologen machen. Vielleicht würde der ihm auch noch ein paar Verhaltenstipps geben, was den Umgang mit betrogenen Müttern und Freunden anging. Er senkte den Blick und betrachtete eine Weile den Abfluss des Waschbeckens. Am liebsten würde er seinen Kopf aufklappen und einfach all seine schlechten Gedanken und Eigenschaften in die Kanalisation kippen. Dann riss er sich los und stieg in die Dusche. Doch bevor seine Hand das Wasser anstellen konnte, überfiel ihn die Erinnerung an Paolo hier in der Dusche. Merlin hatte sich mit den Händen gegen die Wand abgestützt und dabei auf die Haltestange geschaut, die den Duschkopf hielt. Wie anders diese Chromstange doch aussah, wenn man sie mit einem solchen Erlebnis in Verbindung brachte. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass er in dieser Dusche nie wieder sauber werden könnte. Hatte Paolo deshalb gewartet? Wollte er, dass er sich auch hier an diesem Ort, wo er sich die Sorgen aus der Seele waschen konnte, schlecht fühlte? Merlin schüttelte den Kopf. Das war Schwachsinn, dachte er und stellte das Wasser an. Zuerst traf ihn ein kalter Strahl und er hätte fast laut aufgeschrien. Schnell besserte er die Temperatur nach. Als er sich zehn Minuten später abtrocknete, dachte er noch immer an Paolo. Merlin wurde das seltsame Gefühl nicht los, nicht nur gestern Abend wieder verloren zu haben. Er schüttelte den Gedanken ab. Ja, er hatte gestern erneut versagt, aber das hieß noch lange nicht, dass damit alles verloren war. Er zwang sich zu einem Grinsen.
Als er das Haus verließ, war es bereits zehn Minuten nach acht Uhr. Merlin war klar, dass David nicht mehr auf der Bank sitzen würde. Das wäre zu viel verlangt. Trotzdem überkam ihn eine leichte Enttäuschung, als er die Bank tatsächlich leer vorfand. Er beschleundigte seinen Schritt. Immerhin würde er ihn gleich in der Schule sehen und dann würde sich schon alles wieder richtig anfühlen. Er dachte darüber nach, ihn heute zu sich einzuladen. Sie könnten einen Film angucken und danach würde er David alles über sich und Paolo gestehen. Doch sein Optimismus verschwand mit einem Mal wieder. Wie gern würde er einfach mit David im Bett liegen und nichts tun, einfach nur liegen, ihn spüren, ein wenig atmen, sich wohlfühlen. Aber darauf würde er definitv verzichten müssen, wenn er David tatsächlich von seiner Niederlage erzählte. Paolos Worte schoben sich in den Vordergrund. Immer wieder sagte er ihm, dass David ja nichts davon wissen müsste. Er konnte immer noch Paolos fieses Spiel mitspielen und schon zu Beginn seiner Beziehung zu David eine Affäre haben. Und das, nachdem er ihm schon gestanden hatte. Merlin lachte über diese absurde Vorstellung. Nein, das wollte er auf keinen Fall. Er durfte Paolo nicht zuspielen, wenn er ihm schon nicht widerstehen konnte. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er David um Hilfe fragen musste. David würde ihn bei seinem Kampf gegen Paolo unterstützen, weil er es allein einfach nicht schaffte. Irgendwie hörte sich das albern an. Merlin gegen das Böse in Gestalt des Freundes seiner Mutter. Er lachte wieder auf, diesmal bitter.
Die Stimmen unterrichtender Lehrer drangen durch die geschlossenen Türen der Klassenzimmer. Merlin empfand das Geräusch als äußerst unangenehm. Es waren die Laute, die ihm sagten, dass er wiedermal zu spät kommen würde, während die anderen bereits
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