Das Meer in seinen Augen (German Edition)
auf ihren Plätzen saßen.
Abrupt blieb er vor seinem Klassenzimmer stehen. Er wartete einen Moment und atmete tief durch. Dann drückte er die Klinke hinunter und ging hinein.
»Entschuldigung«, murmelte er, ohne eigentlich richtig aufzusehen. Hastig schob er sich nach hinten. Doch dann, auf Hälfte des Weges, blieb er stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand geprallt. David! Wo war David? Er schluckte. Zuerst dachte er daran, wie trostlos ein Tag ohne David sein würde. Langsam setzte er seinen Weg fort. Ob David wohl auch schlecht aus dem Bett gekommen war?
Kaum hatte er sich gesetzt und seine Sachen ausgepackt, kam auch schon das erste Briefchen von Linda geflogen. Merlin war natürlich nicht entgangen, dass sie ihn beobachtete. Und selbstverständlich hatte sie an seinem Gesicht abgelesen, dass er über Davids Abwesenheit mehr als nur überrascht war.
Noch bevor er das Papier richtig entfaltet hatte, kannte er die Frage schon: Wo ist David? Die Frage, die ihm die ganze Zeit durch den Kopf ging. Die Frage, die ihm seine Mitschüler heute noch dutzendfach stellen würden.
Keine Ahnung, schrieb er zurück. Irgendwie war es schon komisch, dass Linda gleich annahm, dass er wissen müsste, wo David blieb. Aber je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er sich, dass er es im Grunde wirklich wissen müsste. Merlin bemerkte die Blicke der anderen. Natürlich waren sie neugierig. Nach der Sensationsenthüllung von gestern bahnte sich in ihren Augen nun der nächste Skandal an. Das war es, was die Schule besuchenswert machte - immer passierte etwas.
Linda warf ihm wieder das Briefchen zu: Ich dachte, ihr seid zusammen? Merlin schob den Zettel in seine Hosentasche. Er hatte nicht vor, darauf zu antworten. Irgendwie hatte sie recht. Sie waren zusammen und deshalb musste der eine doch wissen, was der andere machte, oder? Dann tauchten wieder all die bösen Gedanken auf. Sie waren zusammen, aber trotzdem hatte er gestern mit Paolo geschlafen - obwohl er sozusagen Treue geschworen hatte.
Merlin blieb bis zur Pause in seiner Gedankenwelt gefangen. Immer wieder überlegte er, was denn passiert sein könnte, dass David tatsächlich nicht zur Schule kam. Für normales Verschlafen wurde es langsam zu spät. Das Klingeln der Pausenglocke registrierte er zwar am Rande und auch die Bewegung in der Klasse, aber er reagierte trotzdem nicht. Er legte sich gerade Worte zurecht, mit denen er sein Geständnis gegenüber David einleiten konnte.
»Willst du nicht raus?«, fragte Linda plötzlich.
Merlin schrak zusammen. »Was?«
»Wir müssen raus«, sagte Linda. »Komm!«
Lustlos trottete er hinter ihr her. Als sie auf dem Hof in einer einigermaßen ruhigen Ecke angekommen waren, drehte sich Linda zu ihm um.
»Jetzt erzähl mir, was ist los?«
Merlin kam sich total überrumpelt vor. »Nichts«, sagte er automatisch. »Alles okay.«
»Das glaube ich aber nicht.« Linda zog eine Augenbraue hoch. »Was ist mit David?«
Er zuckte mit den Schultern. »Muss ich das denn wissen?«
»Ihr habt euch gestritten«, stellte Linda fest.
»Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Na, weil du dich so - komisch verhältst.« Sie machte Merlins Stimme nach: »Muss ich das denn wissen, bla bla bla.«
Merlin seufzte. Für einen Augenblick überlegte er tatsächlich, ob er Linda nicht die Sache mit Paolo erzählen sollte. Er entschied sich aber dagegen. Linda hatte ihm schon einige Male wissen lassen, was sie von Männern hielt, die sich in dieser Beziehung nicht beherrschen konnten.
»Wo ist denn dein Freund?«, fragte Jan der Klassensprecher plötzlich und grinste im Vorbeigehen anzüglich.
»Dieser Wichser!«, murmelte Linda.
87
Vorsichtig stieg David aus dem Wagen. Seine Mutter hielt sofort seinen Arm.
»Geht schon«, sagte er, obwohl er wusste, dass diese Ablehnung absolut vergebens war. Kurz dachte er darüber nach, wie seine Mutter die ganze Zeit besorgt in seinem Krankenzimmer hin- und hergelaufen war und alles und jeden aufgescheucht hatte. Irgendwann war endlich eine Schwester aufmerksam geworden und hatte sie nach Hause befohlen. Es wunderte David, dass sie tatsächlich nach kurzem Aufbegehren gegangen war. Er hatte der Schwester einen dankbaren Blick zugeworfen und war schließlich eingeschlafen.
»Nichts geht«, widersprach seine Mutter augenblicklich und sah ihn strafend an. »Du hast doch gehört, was der Arzt gesagt hat: Du musst dich schonen.«
David schwieg. Jeder Einwand wäre zwecklos. Also ließ
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