Das Meer in seinen Augen (German Edition)
hatte es auch so gefühlt, aber konnte sie sich da wirklich sicher sein? Immer wieder sah sie die Situation vor sich, wie er rannte und nicht auf sie hörte, einfach weiterlief und dann von dem Auto erfasst wurde, durch die Luft flog, alles rasend schnell, schließlich aufprallte und liegen blieb. Das war alles viel zu schnell gegangen, als dass sie sich in diesen wenigen Augenblicken hätte vernünftige Gedanken machen können. Jetzt im Nachhinein kam es ihr so vor, als wäre ihr Kopf leer gewesen. Fassungslos hatte sie dort an der Ampel gestanden und auf die Grünschaltung gewartet. Warum hatte er nicht auf sie gehört? In ihr spielte sich die Verzweiflung des Momentes ab. Eigentlich hätte sie das alles schon da fühlen müssen. Sie hatte doch gewusst, wie es kommen würde. Zumindest fühlte sich das jetzt so an. Aber in dieser Situation war einfach keine Zeit gewesen, um über irgendwas nachzudenken, geschweige denn zu handeln. Was hätte sie auch tun können? So hatte sie unbewegt zugesehen und war auch danach nicht gleich aus ihrer Starre herausgekommen. Der Mensch brauchte unglaublich lange, bis er endlich mal reagieren konnte, wenn er einen solchen Schockmoment verarbeiten musste. Selma schüttelte den Kopf. Nein, mit Verarbeitung hatte das nichts zu tun, es musste erst realisiert werden, das war es, was so lange dauerte. Verarbeiten tat sie jetzt gerade, da sie hier wartete und Zeit dazu hatte. Und immer wieder flog David durch die Luft und prallte auf die Straße. Ihr war kalt. Sie drehte das kleine Zettelchen in ihren Fingern um seine Achse. David hatte ihr die Nummer seiner Eltern gegeben, damit sie dort anrief. Eigentlich bestand für sie kein Grund mehr, noch länger zu warten. Seine Eltern würden jeden Moment kommen und sie konnte sich denken, dass die Situation alles andere als angenehm werden würde. Sie betrachtete gedankenverloren ihre zittrige Schrift auf dem Zettel. Natürlich hatte seine Mutter wieder absolut übertrieben reagiert. Selma fragte sich, ob sie selbst auch so aus der Haut fahren würde, wenn ihr jemand sagen würde, dass ihr Sohn einen Unfall gehabt hatte. Sie würde doch zumindest erst mal weiter zuhören, oder? Davids Mutter dagegen hatte sofort angefangen zu schreien und am Ende musste sie mit Davids Vater sprechen, der sich das Krankenhaus und die Straße durchgeben ließ.
Unschlüssig stand sie auf und versuchte das Bild des Unfalls aus ihrem Gedächtnis zu bekommen. David lebte, es war alles gut. Das hätte sie auch seinen Eltern gesagt, wenn sie dazu gekommen wäre. Vielleicht hätte sie sich aber auch einfach nur Gehör verschaffen müssen? Selma rieb sich die Schläfen. Jetzt machte sie sich schon genau solche wirren Gedanken wie David nach seinem Sturz. Warum waren ihr gerade diese Kleinigkeiten jetzt so wichtig?
»Entschuldigen Sie«, sagte ein junger, freundlich dreinblickender Arzt. »Sind Sie die Mutter des Jungen?«
»Geht's ihm gut?«, fragte Selma automatisch zurück.
Der Arzt nickte. »Eine leichte Gehirnerschütterung. Er scheint noch ein wenig unter Schock zu stehen, aber das wird sich schnell geben. Ich habe ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben, im Moment schläft er.«
»Danke.« Selma lächelte erleichtert und sah dem Arzt hinterher. Zumindest hatte sie recht behalten. Es war nichts Schlimmes passiert.
»Wo ist er?«, fragte eine schrille Stimme plötzlich.
Selma drehte sich herum und sah Hanne auf sich zustürmen. Unbewusst wich sie einen Schritt zurück.
»Ist alles in Ordnung?« Sie war vollkommen aufgelöst.
»Ja«, sagte Selma. »Es ist nichts passiert.«
»Nichts passiert?«, rief Hanne panisch. »Warum liegt er dann im Krankenhaus?«
Ihr Mann tauchte auf und legte Hanne beruhigend seine Hände auf die Schultern. Hanne drehte sich um.
»Hast du das gehört? Nichts passiert!«
»Entschuldigen Sie«, sagte Ansgar, »sie ist ein wenig aufgebracht.«
Selma nickte. Sie registrierte, dass er wieder zum Sie übergegangen war. Aber wenigstens schien seine Anwesenheit Hanne wirklich wieder auf den Boden zurückzuholen.
»Er ist von einem Auto angefahren worden«, sagte Selma betont ruhig und erzählte in knappen Worten das Geschehene. Sie schloss mit der Auskunft des Arztes.
Hanne presste sich die Hände auf die Brust und schüttelte immer wieder den Kopf. »Wie konnte das denn passieren?«, fragte sie.
Selma schwieg betreten. Sie wollte nicht sagen, dass David die Ampel missachtet hatte. Sein Vater machte sich augenblicklich Gedanken, ob
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