Das Meer in seinen Augen (German Edition)
immer und immer wieder darauf hinauszulaufen. Wer hatte, wer nicht, wer mit wem, wer durfte auf keinen Fall und wer war zu feige ... Das waren doch die Fragen, die die Welt bewegten. Aber er spielte nicht so richtig mit. Er hatte Angst, obwohl er doch auch fasziniert war. Ein normaler Junge durfte sich aber nicht fürchten, er musste Sex haben, wenn er ein Mann sein wollte, und er musste damit angeben, damit alle wussten, dass er auch wirklich ein richtiger Mann war. Ohne Sex war man kein Mann. Ohne Sex verlor man seinen Freund. Ohne Sex zog die Welt an einem vorbei, so wie jetzt gerade.
Das Chaos fand ein jähes Ende, als er auf dem Asphalt aufschlug. Was war passiert? Verwirrt tastete er nach seiner Tasche, konnte sie aber nicht finden. Verdammt, was war denn los? Er fühlte sich schwindlig und ihm war schlecht. War er etwa umgekippt? Dann stellte sich langsam der Schmerz ein. Sein Schädel drückte und schien im mit einem Mal gar nicht mehr zu passen. Ein dumpfes Dröhnen nahm ihn gefangen. Vorsichtig versuchte er sich aufzusetzen, aber eine Hand legte sich auf seine Brust.
»David!«, sagte eine Stimme. »Alles in Ordnung?« Er kannte sie. Aber irgendwie konnte er nicht klar sehen. Unscharf erkannte er, dass jemand vor ihm hockte.
»Selma?«, fragte er und gab der Hand nach, die ihn sanft wieder zu Boden drückte.
»Bleib erst mal liegen, okay?« Dann folgte ein kurzes Wortgefecht, dem David nicht richtig folgen konnte. Angestrengt versuchte er etwas zu sehen. Er lag auf der Straße. Aber sein Kopf schmerzte zu sehr, als dass er ihn drehen wollte. Eine Ewigkeit später, wie ihm schien, kam Selma zu ihm zurück.
»Wie fühlst du dich?«
»Was ist passiert?«, fragte er und langsam bekam er Angst.
»Du bist angefahren worden«, sagte Selma sanft. »Aber es scheint soweit alles okay zu sein.« Sie räusperte sich. »Du siehst blass aus.«
Langsam kam die Erinnerung zurück. Er war gerannt. Und es war ihm egal gewesen, dass die Ampel rot angezeigt hatte.
»Ich habe das Gefühl, dass ich nicht richtig sehen kann«, stellte David fest. Es schien ihm anstrengend die Augen offen zu halten. »Und ich glaube, mein Kopf platzt.«
Selma nahm seine Hand. »Du hast eine Platzwunde und blutest ein bisschen«, sagte sie ruhig. »Ich glaube nicht, dass es was Schlimmes ist. Aber der Notarzt kommt gleich und ...«
»Wo ist denn meine Sporttasche?«, fragte David panisch.
Selma zögerte kurz. »Die liegt da vorn am Straßenrand.«
David versuchte, ihrem Blick zu folgen, sah aber nichts. Im Grunde konnte es ihm auch egal sein. Kurz darauf wurde ihm bewusst, wie absurd die Frage nach seiner Tasche war. Was hatten diese paar Sachen schon für einen Wert?
»Warum bist du so gelaufen?«, fragte Selma schließlich leise. Ihre Hand streichelte über seine Finger.
David wusste nicht, was er antworten sollte. Ja, warum war er gelaufen? Er hätte doch auch gehen können. Vor allem, warum war er nicht stehen geblieben?
»Ich wollte zum Sport«, sagte er.
»Ist etwas vorgefallen?«, hakte Selma nach.
David fiel wieder ein, dass ja alles mit Sex zu tun hatte. Das war der Grund. Aber das konnte er Selma nicht sagen. Sollte er ihr etwa erklären, dass er soeben die Erkenntnis seines bisherigen Lebens gewonnen hatte?
Aus der Ferne drang ein Martinshorn zu ihnen hinüber.
»Nein«, sagte er. Er konnte sich zwar daran erinnern, dass alles irgendwie mit Sex zu tun hatte, aber vorgefallen war bei ihm ganz sicher nichts in die Richtung. Das wusste er bestimmt. Erst als das Blaulicht in seinen Augen flackerte, kam ihm der Grund für seinen Unfall ganz schwach wieder in den Sinn. Merlin, dachte er, Merlin und Sex. Paolo und Sex. Nicht er.
David hielt sich an Selmas Hand fest, als man ihn auf die Rollbare hievte.
»Ich komme mit«, sagte sie. »Keine Angst.«
Als sie im Wagen waren, fragte David leise: »Gehst du eigentlich immer im Fitnesscenter duschen?«
Selma lachte. »Natürlich.«
David schwieg. Er dachte darüber nach, dass er ungern in öffentliche Duschen ging. Das hatte doch auch alles etwas mit Sex zu tun. Man zog sich vor fremden Menschen aus und seifte seinen Körper ein.
»Du nicht?«, fragte Selma.
»Nein.«
»Warum?«
»Da ist man doch nicht allein«, sagte David und klang dabei so empört, dass der Sanitäter, der mit ihnen fuhr, lachen musste.
85
Selma saß im Wartezimmer und hoffte, dass nochmal alles gutgegangen war. Natürlich hatte sie David gesagt, dass er sich keine Sorgen machen brauchte, und sie
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