Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Schwulsein?
»Dein Vater und ich, wir haben uns gestern noch lange über dich unterhalten«, sagte sie leise. »Ich kann nicht verstehen, weshalb er das Ganze so locker nimmt.«
David presste die Lippen aufeinander. Er spürte, dass sie ihm tatsächlich Zugeständnisse machen wollte. Es wäre wirklich dumm, wenn ihm gerade jetzt ein unbedachter Kommentar herausrutschte.
»Er meint, du musst deine eigenen Erfahrungen machen und wir sollten dir dabei nicht im Wege stehen.« Sie seufzte. »Du weißt, dass ich nicht dafür bin.«
David wartete. Aus irgendeinem Grund wollte er gern die Augen öffnen. Doch er wusste, welcher Blick seiner Mutter ihn erwartete. Genau vor diesen Blicken hatte er Angst. Es lag immer so viel Verletztheit und Vorwurf in ihnen, dass es David jegliche Möglichkeit zur vernünftigen Gegenargumentation nahm.
»Ich ...« Sie brach ab. Dann legte sie ihre Hand auf sein Bein und versuchte es noch einmal: »Ich will nicht, dass er dich verletzt«, sagte sie bemüht.
David schluckte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.
»Ich habe keine Ahnung, wie das läuft zwischen zwei jungen Männern, aber ich glaube, das gestern Abend gehörte eindeutig nicht dazu.« Sie schwieg und ließ die Worte eine Weile wirken.
David fröstelte es plötzlich. Er wusste, dass sie sich diese Worte lange zurechtgelegt hatte, sonst hätte sie das niemals so einfach aussprechen können.
»Liebe funktioniert nur, wenn man sich auf den anderen verlassen kann«, sagte sie unvermittelt. »Vielleicht habe ich gestern ein wenig übertrieben, als ich sagte, dass es eine solche - Liebe nicht geben kann.« Sie räusperte sich. »Aber ich bin mir sicher, dass man sich vorher schon ein wenig kennenlernen sollte. Dein Vater und ich, wir kannten uns eine halbe Ewigkeit, bevor wir das erste Mal miteinander ausgingen.«
David musste augenblicklich grinsen. Es amüsierte ihn, wie seine Mutter doch heimlich wieder die Konservative gab.
»Heutzutage ist es wohl noch viel wichtiger als früher, dass man einander vertrauen kann ...«
»Mam«, unterbrach David sie. »Ich habe nicht mit ihm geschlafen, okay?« Wieder dachte er gleich darüber nach, ob das, was sie da in seinem Bett gemacht hatten, wirklich nicht dazuzählte.
»Schön«, sagte sie steif und räusperte sich wieder. »Ich möchte ja auch nur sagen, dass es besser ist, jemanden vorher zu kennen ...« Sie ließ ihren Satz leise ausklingen und schwieg. Fast befürchtete David schon, dass sie im Sitzen eingeschlafen war. Vorsichtig blinzelte er und sah sie an. Ihr Blick wanderte durchs Zimmer. Mit einem Mal wurde David bewusst, dass sie sein Zimmer auf schwule Zeichen absuchte. Ja, genau so sah es aus. Als ob sie mit einem Scanner nach Spuren jagte.
»Wie meinst du, wird das mit euch weitergehen?«, fragte sie plötzlich, drehte den Kopf und sah ihn an.
Innerlich zuckte David zusammen. Genau darüber hatter er noch gar nicht nachgedacht. Immer wieder waren seine Gedanken um diese Frage herum geschlichen. Aber er hatte sich nicht getraut, sie näher zu erwägen. Er fürchtete sich davor, dass sein Kopf ihm etwas anderes sagen könnte, als sein Herz.
»Ich weiß nicht«, antwortete er und machte die Augen wieder zu.
»Ich wüsste auch nicht, was ich machen würde, wenn ...« Sie sprach nicht weiter. Aber das was sie sagte, traf. Plötzlich sah David diese Szene zum ersten Mal unter ihrer richtigen Bezeichnung: Betrug. Er war betrogen worden. Das klang irgendwie albern. Für normal passte das doch zu Frauen, deren Ehemänner sich eine Geliebte hielten. Zu Selma, dachte er gequält und verzog das Gesicht.
Seine Mutter erhob sich und verließ schweigend das Zimmer.
88
Merlin konnte das letzte Klingeln kaum erwarten. Seine Sachen hatte er schon zehn Minuten vorher gepackt. Als Frau Mehring ihn ansprach und fragte, ob er denn schon Feierabend hätte, nickte er nur. In Gedanken war er längst auf dem Heimweg. Dann klingelte es endlich. Hastig riss er seinen Rucksack an sich und stürmte hinaus. Aus dem Augenwinkel sah er noch, dass Linda ihn verwirrt ansah. Aber für Fragen hatte er keine Zeit. Er sprang die Treppen mehr hinunter als er ging. Auf dem Schulhof rannte er fast eine Lehrerin um. Sie sagte etwas zu ihm, aber Merlin hatte dafür kein Ohr frei. Er wollte keine Zeit verlieren, er musste unbedingt herausfinden, weshalb David nicht in der Schule gewesen war.
Kurz darauf lief er quer über die Wiese auf ihre Bank zu. Die Sonne malte mit Hilfe der Bäume ein
Weitere Kostenlose Bücher