Das Meer in seinen Augen (German Edition)
»Was soll der Scheiß?«
Sie hielten am Ende der Ausfahrt an einer roten Ampel. Selma sah ihn durchdringend an.
»David hat also auch mit ihm geschlafen, was?« Sie schüttelte den Kopf und lachte ungläubig. »Das kann nicht wahr sein ...«
»Doch, ist es«, sagte Merlin ungehalten. »Müssen wir deshalb gleich sterben?«
»Ist doch noch mal gutgegangen, oder nicht?« Selma wirkte seltsam abwesend.
»Ma!« Merlin konnte nicht fassen, wie ruhig sie mit der Tatsache umging, dass sie um ein Haar bei Tempo hundertachtzig von der Bahn abgekommen wären. »Warum willst du zurück?«
Sie sah ihn irritiert an. »Da fragst du noch?«
»Ja, da frage ich noch«, sagte Merlin gereizt.
»Wir schauen nach, ob mit David alles in Ordnung ist.«
Die Ampel schaltete auf grün und sie gab Gas. Zwei Minuten später befanden sie sich auf der anderen Seite der Autobahn und fuhren zurück. Merlin traute kaum sich zu bewegen. Irgendwas ging in seiner Mutter vor, das ihm Angst machte. Und jetzt, da der Wagen wieder auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigte, wollte er ganz gewiss nicht die falschen Fragen stellen. Der Schock von gerade saß ihm immer noch in den Gliedern.
»Irgendwas stimmt da nicht«, murmelte Selma. »Ich hab dir doch gesagt«, sagte sie dann zu Merlin, »da ist was Größeres im Gange ist.«
Merlin nickte zaghaft.
»Keine Angst, wir drehen nicht noch mal um.« Selma lachte irre.
»Okay«, presste Merlin hervor. Dennoch hielt er es für besser, seiner Mutter keine weiteren Fragen zu stellen, solange der Motor lief.
»Das was ich über dich gesagt habe«, fuhr Selma ernsthaft fort, »gilt auch für David. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einfach so mit anderen Typen Sex hat.«
»Hmm«, machte Merlin. Er fand das vollkommen absurd.
»Ich weiß, dass du mich für verrückt hältst.«
»Nein«, sagte Merlin sofort.
»Doch, tust du.« Sie widersprach so grimmig, dass sich Merlin nicht mehr traute, noch etwas zu entgegnen.
»Für dich gibt es nur das, was du auch sehen und anfassen kannst. In der Beziehung bist du mal wirklich typisch Mann. Das ist vielleicht das größte Problem, dass die Leute einfach nicht mehr auf die Gefühle achten.«
Merlin sah zur Seite aus dem Fenster. Diese Leier hatte er schon etliche Male gehört.
»Es gibt bedeutend mehr auf der Welt, als nur das, was man sehen kann«, sagte Selma, als hätte sie soeben eine grandiose Entdeckung gemacht. »Manchmal versteht man etwas nicht sofort. Dann überlegt man und denkt vielleicht, dass das alles nicht sein kann, aber ...«
Merlin sah den Glanz in den Augen seiner Mutter. Sie schien mit einem Mal geradezu besessen zu sein.
»Aber wenn man dann das richtige Puzzlestück zum richtigen Zeitpunkt bekommt, erschließt sich einem das Bild.«
»Was hat das jetzt mit mir und David zu tun?«, fragte Merlin vorsichtig.
»Ich kenne zwei Jungen, die ich offenbar vollkommen falsch eingeschätzt habe und einen Mann, den ich am Ende überhaupt nicht mehr durchschauen konnte. Merlin, ich kann es hinnehmen, dass du mit Paolo in die Kiste gehüpft bist. Da kann ich mir wirklich einreden, dass es vielleicht ein Ausrutscher war oder was auch immer. Aber ich kann nicht glauben, dass David plötzlich den gleichen Fehler macht.«
»Du kennst ihn doch gar nicht«, gab Merlin zu bedenken.
»Ich spüre das einfach«, sagte Selma trotzig. »David ist ein ehrlicher und lieber Junge.«
Merlin hatte langsam das Gefühl, dass seine Mutter überschnappte.
»Es muss an Paolo liegen!« Ihre Stimme war vollkommen überzeugt. »Er ist die einzige Unbekannte in diesem ganzen - Desaster.«
»Ja, natürlich liegt es an Paolo«, stimmte Merlin zu. »Er kommt zu einem hin und sagt, dass er Sex will.«
»Und dann?«, rief Selma.
»Wie und dann?«
»Und dann sagst du einfach so ›ja‹, oder was?«
»Nein, man ist erst mal vollkommen überrumpelt.«
»Die erste Reaktion ist nicht Abwehr?«, fragte Selma.
»Schon, aber er lässt nicht locker und dann ...« Merlin verstummte. Wie sollte er seiner Mutter dieses Gefühl erklären? Das alles hörte sich doch ganz so an, als wollte er keine Verantwortung für sein Handeln übernehmen.
»Ich meine«, korrigierte er, »wenn man es natürlich wirklich wollte, könnte man ...«
»Nein«, sagte Selma. »Ich glaube nicht, dass du mit ihm geschlafen hättest, obwohl du wusstest, was das für Konsequenzen haben wird. Er hat dich dazu gebracht und du konntest dich einfach nicht wehren. Auch David wird ganz sicher gewusst
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