Das Meer in seinen Augen (German Edition)
schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich war nicht blind, ich habe meine Augen nur davor verschlossen.« Ihr Gesichtsausdruck wurde schmerzlich. »Kannst du das glauben?«
»Nein«, murmelte Merlin kleinlaut. Er konnte es in der Tat nicht.
»Wie betäubt muss ich gewesen sein.«
»Ma?« Merlin wurde die Richtung des Gespräches unangenehm. Er wollte nicht, dass seine Mutter sich am Ende womöglich noch Vorwürfe machte, weil sie das Spiel nicht rechtzeitig aufgedeckt hatte.
»Ja?« Ihr Blick ging weiterhin geradeaus auf die Autobahn.
»Ich ...«, begann Merlin, aber er wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Die Situation überforderte ihn plötzlich.
»Es tut dir leid«, sagte Selma ruhig. »Ja, das tut es. Ganz sicher.«
Merlin nickte stumm.
»Merlin, du bist nicht wie die anderen.« Sie klang fast feierlich. »Männer sind bisweilen Arschlöcher, aber nicht du.«
Mit einem Mal fühlte sich Merlin noch unwohler in seiner Haut. Das erinnerte ihn jetzt doch zu sehr an die Sorte Mütter, die sich um nichts in der Welt vorstellen konnten, dass ihr geliebter Sohnemann etwas Unrechtes tat.
»Ma ...«, begann er, aber Selma schüttelte sofort den Kopf.
»Nein, Merlin, es stimmt. Du bist einfach nicht so. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass du ...« Sie räusperte sich. »Nein, da steckt etwas anderes hinter.«
»Ma ...«, versuchte es Merlin noch mal. Er schämte sich plötzlich, diesen unverdienten Zuspruch zu erhalten. Natürlich war er schuldig. Daran bestand überhaupt kein Zweifel. Wie oft hatte er versucht, sich gegen Paolo zu wehren und war ihm dennoch immer erlegen. Wenn er nur genug Durchsetzungsvermögen gehabt hätte, dann ...
»Du bist nicht der Typ, der einfach so mit einem anderen Kerl in die Kiste springt«, sagte sie fest. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du dich freiwillig von einem Kerl entjungfern lässt, den du nicht mal liebst!«
Merlins Gesicht brannte. Beschämt sah er aus dem Fenster, um nur ja nicht in Versuchung zu kommen, seine Mutter anzusehen. Er dachte an sein erstes Mal. Es war alles andere als romantisch gewesen. Natürlich hatte er sich das immer anders vorgestellt, und natürlich hatte er das so auch niemals gewollt. Doch es war auch aufregend gewesen. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass seine Mutter ihrem Selbstschutz erlag. Sie brauchte eine Erklärung für all das. Sie musste wissen, dass er keine Schuld an der ganzen Geschichte trug, damit sie ihn weiterhin lieben konnte. Er war ihr Sohn, aber er hatte sie richtig verletzt, und weil sie ihn nicht aufgeben wollte, musste sie einen anderen Schuldigen finden. Wer konnte dafür besser herhalten als Paolo? Wahrscheinlich war das auch letztlich der Grund, weshalb sie gerade nach Berlin fuhren. Sie wollte möglichst viel Distanz zwischen sie und Paolo bringen, damit ihre Version der Geschichte nicht doch noch irgendwie durch andere zerstört werden konnte. Merlin fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. War das tatsächlich seine Mutter?
»Ma«, sagte er endlich, »ich bin genauso schuldig, wie Paolo.« Er schloss die Augen und wartete angespannt auf die Antwort. Doch sie blieb aus. Selma saß ruhig am Steuer als hätte sie ihn gar nicht gehört.
»Ma?«
»Ich habe es gehört«, sagte sie leise, »aber das heißt nicht, dass ich zustimmen muss. Ich bleibe dabei, da ist etwas am Werk, das wir nicht begreifen.«
»Ich weiß nicht wovon du redest.« Merlin verschränkte die Arme. Für ihn war das Gespräch damit beendet. Verstohlen schaute er auf die Uhr. Sie waren nicht mal eine halbe Stunde unterwegs.
»Du musst es auch nicht verstehen«, sagte sie sanft. »Ich weiß, dass du nicht der Typ für solche Sachen bist und dafür steht für mich deine Unschuld fest, fertig.«
Merlin schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Die Verbohrtheit seiner Mutter regte ihn auf. Bitter dachte er, dass es so kein Wunder war, dass sie nichts von ihm und Paolo mitbekommen hatte. Plötzlich sah er wieder das Bild von dem schlaftrunkenen David vor sich. Er hatte auch mit Paolo geschlafen. Niemals hätte Merlin das für möglich gehalten, aber es war dennoch passiert. Vielleicht war er letztlich kein Stück hellsichtiger als seine Mutter, aber er würde nicht den Fehler machen und die Schuld allein Paolo geben, auch wenn das sicherlich einfacher war. Nein. So weh es auch tat, David hatte freiwillig mit Paolo geschlafen. Sicherlich hatte Paolo ihn ein wenig dazu gedrängt, ihn womöglich noch überredet, aber
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