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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathi Appelt
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versiegen. „Sollte der Mond nicht schon längst aufgegangen sein?“, bemerkte Mirja.
    „Mond!“, rief sie, als ob der Himmel sie hören könnte. Aber der Mond ließ sich nicht hetzen. Ein Mädchen, das mit dem Kommen und Gehen der Gezeiten aufwächst, weiß, dass es eine Weile dauert, bis der Mond das Wasser ins Meer hinausgezogen hat. Dorthin, wo sie hinwollte. „Beeil dich gefälligst, du alter Faulpelz!“, rief sie trotzdem. Punkt D dauerte viel länger, als sie gedacht hatte, und es lagen noch so viele Punkte vor ihr.
    Sie trommelte mit den Fingern auf das Dollbord, als ob sie damit den Mond antreiben könnte. BF klopfte mit dem Schwanz auf den Boden des Bootes. Mirja hörte auf zu trommeln.
    Weiter draußen sah sie die Fächerpalmen, wo Captain in seinem Nest saß und schlief. Captain, ihre zahme Möwe.
    Captain!
    Noch so eine Windböe schlug gegen ihr Herz. Ein Teil des heutigen Desasters war seine Schuld. Die sprechenden Krabben hatten zwar den Anfang gemacht, aber Captain hatte ebenfalls Anteil an dem Ärger, der dann gefolgt war. Und jetzt schlief er bestimmt tief und fest oben in seiner Palme.
    Hinter den Palmen sah Mirja die Muschelschalen schimmern, aus denen die Straße bestand. Sie hörte die rollende Brandung auf der anderen Seite der Sanddünen, jener Dünen, die sowohl das Becken als auch den schmalen Kanal einrahmten – der einzige Weg, der von dieser Lagune hinaus aufs Meer führte.
    Das Wasser in dem Kanal stieg und fiel mit den Gezeiten, der Mond schob Wasser ins Becken hinein und zog es wieder heraus. Und Mirja wartete darauf, dass sie mit dem Wasser durch den Kanal nach draußen gezogen wurde.
    Alle, die Mirja etwas bedeuteten, lebten hier an der Oyster Ridge Road bei den Dünen und dem Salzgras, dem Sumpfgebiet und der Straße aus Muschelschalen und der rollenden Brandung: Signe, Dogie und Mr Beau-champ (die jetzt alle böse auf sie waren) und die „Viecher“: BF , Sindbad, Captain und Zwei (die nicht böse auf sie waren).
    Die Einzige, die fehlte, war Meggie Marie.
    Zehn Jahre, Mirjas ganzes bisheriges Leben lang, war das kleine Universum ihr Zuhause gewesen, ihre Heimat, die sie mit Signe und BF teilte, mit den langbeinigen Strandläufern, die an der Küste entlanghasteten, mit den Seeigeln, die an ihrem Fenster aufgereiht waren und den Shrimps-Booten auf dem Meer, die ihre Netze wie Schmetterlingsflügel am Rumpf hinter sich herzogen.
    Hier war alles, was sie kannte und liebte.
    Und heute hatte sie alles zerstört.
    21 Die Dunkelheit ringsum verdichtete sich. Sterne, selbst ein ganzer Himmel voll, spenden nicht viel Licht. Mirjas Augen hatten sich ein wenig an die Finsternis gewöhnt, aber trotzdem wünschte sie sich mehr Licht herbei. Wo blieb bloß der Mond?
    Wenn sie sich nur Dogies Gezeitentabelle angeschaut hätte, ehe sie aufgebrochen war – aber das wäre natürlich nicht möglich gewesen, selbst wenn sie daran gedacht hätte, denn obwohl Dogie behauptete, er sei nicht böse auf sie, wusste Mirja es besser. Er musste böse auf sie sein … Alles war wegen ihr passiert und wegen Captain und BF und – oh ja, auch wegen Zwei. Das durfte nicht verschwiegen werden. Zwei hatte auch Schuld.
    Natürlich war Dogie böse auf sie.
    Mirja seufzte. Selbst wenn sie an die Gezeitentabelle gedacht hätte, hätte sie Dogie nicht fragen können, denn Dogie wollte Mirja ganz gewiss nicht sehen.
    Trotzdem, ein Blick auf die Tabelle wäre hilfreich gewesen. Manchmal fiel das Warten leichter, wenn man wusste, wie lange man warten musste.
    Mirja kannte sich mit dem Warten aus.
    Sie wackelte ungeduldig mit den Beinen und fühlte, wie die kleine Holzfigur in der Hosentasche gegen ihre Hüfte schlug.
    Sie hatte gar nicht vorgehabt, Yemayá mitzubringen, aber gerade als sie sich aus dem Zimmer schleichen wollte, war ihr Blick auf die kleine Figur gefallen, die in einer Reihe mit sechs anderen stand. Insgesamt waren sie zu siebt. Da war sie wieder, die Glückszahl. Sieben Meerlinge. Und alle hatte Mirja von Mr Beauchamp geschenkt bekommen.
    „Ich nehme euch mit – als Glücksbringer“, hatte sie ganz leise geflüstert. Dann hatte sie die sechs Figuren in einen Schuhkarton geschoben und Yemayá, ihren Liebling, in die Tasche gesteckt und war aus dem Haus geschlüpft.
    Mirja fühlte, wie BF ihr Knie leckte. „Hör auf mit deinen Flüchtiküssen“, flüsterte sie. Wieder klopfte er mit dem Schwanz auf den Boden des Boots.
    BF war noch ein kleiner Welpe gewesen, als Meggie Marie fortgegangen war.

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