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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathi Appelt
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Sand, Kieselsteine und Erde auf die Bank, bis daraus ein langes, schmales Stück Land geworden war, das nur knapp unter der Wasseroberfläche lag. Jahrhundertelang trugen die Wellen Tonnen von Sand, Felsen und Muschelschalen auf beide Seiten der Austernbank. Irgendwann war sie völlig davon bedeckt.
    Die Austern zogen weiter und fanden andere Plätze, wo sie ein Heim gründen konnten. Aber sie ließen die Schalen ihrer Vorfahren zurück, die in Sand, Steinen und Kies steckten und jene massive Insel bildeten, die von den Fachleuten Sandbank genannt wurde, obwohl es eher ein großer Unterwasserfels war als ein Haufen loser Sand.
    Und dort liegt er nun, etwa hundert Meter vor der Küste, und reckt nur hin und wieder seine Nase aus dem Wasser. Heutzutage kennt man ihn als De Vacas Fels, benannt nach Álvar Núñez Cabeza de Vaca, der den weiten Weg von Spanien gekommen war und dagegenfuhr. Der Fels riss ein ziemlich großes Loch in den Rumpf seines Schiffs. Das war 1528, vor fast fünfhundert Jahren. Und während sich das Schiff immer weiter auf die Seite legte, nahm Cabeza de Vaca seine Männer, Hühner und Ziegen und schwamm an Land, wo sie von einer Gruppe des einheimischen Küstenstamms, den Karankawa, empfangen wurden.
    Die Karankawa nannten die Sandbank nicht De Vacas Fels. Immerhin war er nicht der Erste, der dort gestrandet war. Die Karankawa kannten die eigentliche Bedeutung der Sandbank: Sie war ein Treffpunkt für Rochen aller Art.
    Und heute Nacht, genau in dieser Nacht, versammelten sich die sogenannten Echten Rochen dort, wie jedes Jahr, wenn der Mittsommervollmond am Himmel steht, wie sie es seit Tausenden von Jahren tun.
    Wie viele Rochen dort wohl waren? Hundert? Tausend? Noch mehr? Sie warteten auf den Mond, dessen Licht sie durch den schmalen Kanal führen sollte, geradewegs in die Lagune, wo der weiche, schlammige Boden perfekt für ihr Vorhaben ist. Dort, zwischen den Stängeln des Sumpfgrases, das aus dem Lagunenboden wächst, legen sie jedes Jahr ihre Eier ab. Und wenn sie damit fertig sind, kehren sie im Licht des frühen Morgens wieder in den blaugrünen Ozean zurück und schwimmen schnell hinaus ins offene Meer. Es ist ein Ritual, das der Mond und die Rochen seit Tausenden von Jahren vollziehen, vielleicht auch seit einer Million Jahren.
    Meerjungfrauen-Täschchen, so werden die Eikapseln genannt. Meerjungfrauen-Täschchen.
    Obwohl sich im Logbuch des Kapitäns kein Eintrag hierzu findet, glauben manche, dass Cabeza de Vaca nur auf die Sandbank aufgelaufen ist, weil er einer verführerischen Meerjungfrau folgte. Das ist gar nicht schwer zu glauben, besonders weil er es doch aufgeschrieben hat, nicht offiziell, sondern in seinen privaten Aufzeichnungen, die er vor fast fünfhundert Jahren verfasst hat, gleich nachdem er die Küste von Texas verlassen hatte und in seine Heimat zurückgekehrt war. Und dort liegen sie noch immer, in einem Museum.
    Auf der Sandbank hatte Mirja ihre Mutter zum letzten Mal gesehen. Von hier war sie im Licht der unzähligen funkelnden Sterne davongeschwommen. Einfach verschwunden, genau wie Cabeza de Vaca und die Karankawa. Einfach weg.
    20 Knie an Pfote, Nase an Nase, schaute Mirja BF in die Augen. „Wir finden sie, mein Junge. Kein Problem.“ Eine kleine Welle der Glückseligkeit schwappte über Mirja.
    BF drückte sich an sie. Mirja atmete seinen Hundegeruch ein, eine Mischung aus Hundefutter und Spülmittel – die Gerüche seines Abendessens und des Bades, das sie ihm vor zwei Tagen verabreicht hatte – plus sein eigener BF -Geruch, irgendwie nach Knoblauch und Sand und Honig. Alles zusammen.
    Über BF s Kopf hinweg sah sie die Konturen der drei dunklen Häuser, der einzigen Häuser an der Oyster Ridge Road. Auf ihren hohen Stelzen thronend, sahen sie aus wie Strandvögel, die dicken Leiber auf dünnen Beinen, die lang genug waren, damit das Wasser bei Sturm unter den Körpern hindurchfließen konnte.
    Ihr eigenes Haus, das sie mit Signe bewohnte, stand dem Becken am nächsten. Bei Tageslicht hatte es eine geisterhafte, hellblaue Farbe, mehr Grau als Blau, – Spukblau, wie Signe sagte – aber jetzt, im Dunkeln, war überhaupt keine Farbe übrig geblieben. In ihrem Zimmer wartete das leere Bett, die dünne Bettdecke nach unten zum Fußende geschoben. Nebenan schlief Signe, die keine Ahnung hatte, dass ihr Mädchen und BF draußen in der Lagune waren, dass sie gemeinsam im Flitzer hockten.
    Der Gedanke an Signe ließ die kleine Welle aus Glückseligkeit

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