Das Meer und das Maedchen
Gedanke zu Hilfe: Sie hatte ja ihren Glücksbringer! Und jetzt, wo sie darüber nachdachte, erkannte sie auch, warum ihre Mutter ihn ihr gegeben hatte: damit sie mich erkennt, wenn sie mich sieht!
Genau!
Und wenn der Glücksbringer nicht genug Glück brachte, hatte Mirja ja immer noch die sieben geschnitzten Holzfiguren als Rückendeckung.
Mr Beauchamp kannte sich mit dem Meervolk aus, mit jenen wässrigen Kreaturen, die halb Fisch oder Delfin oder Seehund und halb Mensch waren.
„Ob Tümpel oder Becken, ob Fluss oder Quelle, ob See oder Meer“, hatte Mr Beauchamp zu Mirja gesagt, „überall gibt es Geschichten über die Meerleute.“ Mirja liebte Geschichten über Meerleute. Sie liebte alles an ihnen.
Und Mr Beauchamp kannte jede Menge Meergeschichten, Dutzende, und er erzählte sie Mirja, eine nach der anderen.
Mr Beauchamp war nicht ihr Großvater, aber er hätte es sein können. Er tat all das, was ein Großvater auch tat: Er erzählte Geschichten, brachte ihr das Damespielen bei und sang ihr alte Seemannslieder vor. Alles Dinge, von denen Mirja annahm, dass ein Großvater sie auch machen würde.
Und vor allem schnitzte er die Meerlinge für sie.
Als das Boot in der aufsteigenden Flut leicht schaukelte, griff Mirja unter die Bank nach dem Schuhkarton und hob den Deckel.
Sie hatte eins ihrer alten T-Shirts mit Dogies Werbeslogan „Die besten Bretter gibt’s im Bus“ – eins von den lilafarbenen – unten in den Schuhkarton gestopft, damit es die Meerlinge warm und bequem hatten. Sogar in der Dunkelheit konnte sie die Figuren voneinander unterscheiden. Ihre Finger waren mit jeder Rille und jeder Wölbung vertraut, mit jeder Scharte und jeder winzigen Schuppe.
Schließlich hatte Mirja auch jeden Einzelnen gefunden, bevor Mr Beauchamp sie geschnitzt hatte. Das war nichts, was irgendjemand ihr beigebracht hatte. Sie wusste es einfach. Und warum auch nicht? Ein Mädchen, das Meerjungfrauenblut in den Adern hatte, wusste doch wohl, welcher Meergeist in einem Stück Holz wohnte!
Den allerersten Fund würde sie nie vergessen. Es war eine Sirene. Sie war mit Signe und BF am Strand spazieren gegangen, am Rand des Ozeans, als etwas gegen ihren Fuß stieß.
„Igitt!“, hatte sie gerufen, weil sie dachte, es sei ein Krebs.
Aber als sie nach unten schaute, sah sie ein dickes graues Holzstück. Sie stupste es mit dem großen Zeh an. Es war hart, vernarbt vom Zusammenprall mit Muschelschalen und Steinchen, die es auf seiner Reise zu dieser Küste begleitet hatten. BF schnüffelte daran und bellte. Spiel mit mir! Wirf es weit!
BF liebte das Fangenspielen und es gab jede Menge Treibholz, das Mirja werfen konnte. Aber als sie dieses Stück aufhob, fühlte sie ein Summen in ihren Fingerspitzen. Sie wog es in der Hand und nahm es dann in die andere. Ja. Das Holz summte. Sie starrte es an. Es war schwerer als die Stöcke und Holzklötze, die gewöhnlich ans Ufer geschwemmt wurden.
„Scheint ein ganz schönes Gewicht zu haben“, bemerkte Signe.
Mirja betrachtete das Holz, und dann, aus einem Impuls heraus, den sie nicht erklären konnte, hielt sie es an ihr Ohr.
Ihr stockte der Atem. Das Holz summte.
„Eine Sirene!“, rief sie.
Signe schaute sie an. „Mirja“, sagte Signe. „Es ist bloß ein Stück Holz.“
Mirja wusste, dass Signe nicht viel für Meergeschichten übrighatte. Signe dachte immer praktisch. Aber Signes Nüchternheit hatte nicht auf Mirja abgefärbt. Sie brachte das Stück Holz geradewegs zu Mr Beauchamp, hielt es ihm hin und sagte: „Eine Sirene.“
Die Sirene war die erste Figur, die Mr Beauchamp für sie schnitzte. Danach fand sie noch sechs weitere:
1. Sedna, die Göttin des Eismeers;
2. der Ningyo, der aus Japan zu ihnen geschwommen war;
3. eine Wasserfrau, deren Schürze immer nass war;
4. Lorelei, die alle Rheinfischer verführte;
5. die listige Rusalka; und schließlich …
6. Yemayá, die Mutter allen Wassers.
Diese sechs und die singende Sirene, das machte zusammen sieben.
„Ein Geschenk“, sagte Mr Beauchamp jedes Mal. Mirja liebte sie alle, liebte alles an ihnen: dass sie sie am Strand gefunden hatte, dass sie ihre Gestalt im Holz entdeckt hatte, dass Mr Beauchamp sie mit seinem Schnitzmesser ans Tageslicht bringen konnte, dass nicht zwei einander glichen, und dass sie der einzige Mensch auf Erden war, der sein eigenes Meerlingvolk hatte.
Sie hatte Stunden damit verbracht, mit ihnen zu spielen. Sie hatte ihnen Sanddörfer gebaut, Burgen und Höhlen, sogar ein
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