Das Meer und das Maedchen
Vollmond“, erzählte er ihr. Und dann wurde er immer sehr still und starrte hinaus aufs Wasser, als ob er irgendwo in einen Winkel in seinem Kopf verschwinden würde. Mirja hütete sich, ihn zu stören, wenn er so war.
„Er muss herrliche Erinnerungen haben“, hatte Signe einmal gesagt, als Mirja sie gefragt hatte, warum Mr Beauchamp manchmal in seinem Kopf verschwand.
Jedes Jahr im Juli warteten alle darauf, dass der Vollmond seine Strahlen auf Mr Beauchamps Veranda warf und die magischen Blüten hervorlockte.
Genauso wie Mirja wartete auch Mr Beauchamp auf jemanden. Jemand, der vielleicht erscheinen würde, wenn der Kaktus seine riesigen Blütenblätter entfaltete und seinen würzigen Duft in der Nachtluft verbreitete. Und jedes Jahr sagte Mr Beauchamp zu Mirja: „Vielleicht dieses Jahr, mon petite .“
Und weil Mr Beauchamp mittlerweile älter als Methusalem aussah, hatte Mirja gehofft, dass derjenige, auf den Mr Beauchamp wartete, in diesem Jahr endlich auftauchen würde, genau zur Blüte des Kaktus.
Und dann, heute Morgen, in einem einzigen, viel zu schnellen – entsetzlich schnellen – Augenblick, hatte Mirja ganz kurz nicht auf BF geachtet, auf BF , der so flink war wie ein Wiesel, obwohl Signe sie gewarnt hatte: Pass auf den Hund auf!
Also war doch alles Mirjas Schuld.
Und das war immer noch nicht alles, was heute passiert war und was sie so in Schwierigkeiten gebracht hatte. „Verdammte Krabben!“, fauchte sie von ihrem Sitz im Boot aus. Und wo in Neptuns Namen blieb der verdammte Mond?
„Wuff“, wuffte BF . Seine Zunge raspelte ihr wieder über das Knie.
„Pst!“, ermahnte ihn Mirja. Ihr Herz schlug im Rhythmus ihrer Gedanken gegen ihre Rippen: Schnel-ler, schnel-ler, schnel-ler.
25 Mensch, ist das dunkel! , dachte Mirja. Sie konnte kaum die Konturen der zottigen Palmen entlang des Ufers erkennen. In einer von ihnen, nur ein paar Meter entfernt, saß Captain gemütlich in seinem Nest. Mirja kannte niemanden sonst, der eine zahme Möwe als Nachbarn hatte. Das war schon toll. Captain wohnte seit fünf Jahren nebenan, seit er durch ihr geschlossenes Küchenfenster geflogen war. Es war während eines Sturms gewesen. Eine Böe hatte ihn erfasst. Krach! Er war gegen die Fensterscheibe geprallt. Glassplitter und Federn waren durch die Luft geflogen.
Mirja hatte sich fast zu Tode erschrocken. „Argh!“, kreischte sie. Kkkkkrrrrrreeeeeeeiiiiiiiiiisch! , kreischte die Möwe. Sie kreischte und kreischte. Mirja kreischte ebenfalls. Und BF kläffte wie irre. „Wuffwuffwuffwuff!“ Dann kroch er unter den Küchentisch und knurrte.
Inmitten des Chaos warf Signe – wie immer die Ruhe selbst – ein Handtuch über die Möwe, packte sie und klemmte sie sich unter den Arm. Dann hielt sie dem Vogel den Schnabel zu und schrie Mirja zu: „Hol das Klebeband!“
Mirja hörte auf zu kreischen, und nachdem sie kurz in der Krimskrams-Schublade neben der Waschmaschine herumgesucht hatte, brachte sie ihr das Klebeband. „Elefanten-Tesa“, nannte Signe das feste graue Gewebeband. Mirja holte die Rolle aus der Schublade. Funktionierte Elefanten-Tesa auch bei Möwen? Sie reichte Signe das Klebeband.
„Möwen-Tesa“, sagte Mirja. Signe lächelte, aber sie blieb so gelassen wie immer. Signe war immer gelassen und vernünftig, was ein Glück war, wenn man eine völlig verängstigte Möwe unter dem Arm hatte und einen knurrenden Hund unter dem Küchentisch.
Das war typisch für Signe, dachte Mirja jetzt. Kaum etwas brachte sie je aus der Ruhe. Und das war auch ein Grund, warum der heutige Tag so maßlos schrecklich gewesen war. Mirja schaute zu den Palmen. Alles, was sie sehen konnte, waren die stillen Schatten der Bäume. Captain war nirgends zu entdecken.
Mirja dachte wieder an jenen stürmischen Abend. Nachdem Signe den Vogel beruhigt und BF zur Ordnung gerufen hatte, wickelte Signe den verletzten Flügel der Möwe in ein Geschirrtuch und befestigte ihn so, dass sie nicht flattern und sich weiter verletzen konnte.
„So“, sagte sie, als sie fertig war, und reichte Mirja die Möwe.
Mirja fühlte den Vogel in ihren Händen zittern. Sie streichelte seine zarten Federn und gurrte leise: „Cooleoleo.“ Sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen. Außerdem war die Tatsache, dass sie eine Möwe in den Armen hielt, auf jeden Fall cooleoleo. Und während Mirja den Vogel festhielt, entfernte Signe das Elefanten-Möwen-Tesa von seinem Schnabel. Dann machte sie ihm eine Schale mit warmem Haferbrei,
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