Das Meer und das Maedchen
Funkeln der Sterne, die sich auf der Oberfläche spiegelten, blinzelte ihr zu.
Doch als sie sich zum Anleger umdrehte, erkannte sie, dass das Boot näher gerückt war. Und das Seil war deutlich schlaffer geworden.
„Jajajajaja!“
Sie stieß die Fäuste in die Luft und konnte nicht anders – die Worte eines alten Seemannsliedes, das Mr Beauchamp ihr beigebracht hatte, schlüpften ihr über die Lippen:
„Hoio, ahoi, wir segeln,
hoio, ahoi, wir segeln,
hoio, ahoi, wir segeln,
morgens in der Frühe.“
Und als ob die See sie gehört hätte, kam eine weitere Welle angerollt und hob das Boot ein Stückchen weiter in die Höhe.
27 Es funktionierte! Mirja zupfte glücklich an ihrem Anhänger. Ihrem Glücksbringer. Das Band, an dem er hing, war so glatt wie Seide. Eines Tages hatte Signe dieses knallpinke Band mit nach Hause gebracht und um Mirjas Pferdeschwanz gebunden.
Mirja erinnerte sich noch daran, wie Signe es aus der Einkaufstüte gezogen und hochgehalten hatte. Das Pink war so pink, dass Mirja förmlich geblendet war.
„Einfach so“, sagte Signe.
Das war bemerkenswert. Signe tat gewöhnlich nie etwas „einfach so“.
Mirja wusste, dass das Band für Signe einen Luxus darstellte, eine zusätzliche Ausgabe, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten.
Aber da stand Mirja in der Küche, und Signe kämmte ihr langes schwarzes Haar und flocht das Seidenband hinein. Das Pink des Bandes leuchtete im schwarzen Haar noch mehr – wenn das überhaupt möglich war.
„Ein neues Band für mein altes Mädchen“, sagte Signe.
Mirja war überrascht. „Ist zehn denn alt?“, fragte sie.
Einen Moment lang hatte Signe geschwiegen, doch dann, als sie die Schleife fertig gebunden hatte, flüsterte sie: „Du bist älter als BF .“
Das stimmte – BF war jünger als Mirja, wenigstens in Menschenjahren, nicht aber in Hundejahren. Da war er neunundvierzig. Wenn man so rechnete, war BF sogar älter als Signe, die fünfundzwanzig war. Mirja hatte keine Ahnung, wie alt Dogie war. Und so alt wie Mr Beauchamp war sowieso niemand.
Dann wandte sie sich zu Signe und fragte: „Ist zehn alt für eine Meerjungfrau?“
Signe schaute sie an und sagte: „Das weiß nur der Himmel.“ Immer, wenn Signe keine direkte Antwort geben wollte, sagte sie: „Das weiß nur der Himmel.“ Und dabei blieb es dann, als ob der Himmel tatsächlich Bescheid wüsste.
Mirja war aufgefallen, dass die meisten ihrer Fragen über Meerjungfrauen – was auch Fragen über Meggie Marie einschloss – von Signe auf diese Art und Weise beantwortet wurden.
Mirja hatte nach hinten gegriffen und das glänzende Band in ihrem Haar betastet. Es fühlte sich glatt und weich an, so weich wie ihre Haare. Sie war noch nicht lange zehn Jahre alt, erst ein paar Tage, aber ihr gefiel die Rundheit der Zahl, ihre Vollkommenheit. Sie umfasste all ihre Finger. Oder ihre Zehen, je nachdem, was sie gerade zählte.
„Flüchtikuss“, sagte Mirja zu Signe und gab ihr einen schnellen Schmatz auf die Wange.
„Pass gut drauf auf“, sagte Signe und lächelte.
„Das werde ich“, versprach Mirja.
Sie hatte das Band auf ihre Kommode gelegt, wo es zwischen den Meerlingen leuchtete. Und da war es immer noch gewesen, als Mirja vorhin den Glücksbringer zwischen den Socken hervorgekramt hatte. Die alte, rostige Kette, an der der Talisman gehangen hatte, war in ihren Fingern gerissen, und so hatte sie die Scheibe abgelöst, die kaputte Kette wieder in die Schublade gleiten lassen und das Seidenband durch die Öse oben an dem Anhänger gezogen.
Mirja nahm die Finger von dem Glücksbringer. Sie wollte das Band nicht zerreißen und riskieren, den Anhänger zu verlieren. Es war das Einzige, was ihre Mutter ihr jemals geschenkt hatte. Wenn sie an jenen Tag dachte, an den letzten Tag mit ihrer Mutter, erinnerte sie sich an Dreierlei:
1. an die lachende Stimme ihrer Mutter, die ihr mit fröhlichem Singsang „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, kleines Meermädchen“ ins Ohr flüsterte;
2. an den goldenen Glücksbringer;
3. an das, was ihre Mutter gerufen hatte, als sie davonschwamm: „Mirja, Mirja. Sie ist ein Geschenk. Ein Geschenk.“
Immer wieder hatte Meggie Marie das gerufen. Ein Geschenk. Das Wort war um Mirjas Ohren gekreiselt. Es hatte sie schwindelig gemacht. Signe hatte sie festgehalten, ganz fest, während Meggie Marie weiter und weiter ins Meer hinausschwamm und in den dunklen Wellen verschwand. Mirja hatte ihre Arme ausgestreckt, so weit sie konnte, aber
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