Das Meer und das Maedchen
der dafür sorgte, dass das Zittern schwächer wurde. Danach setzte Mirja die Möwe auf den Boden und schaute zu, wie sie unter den Küchentisch hopste und sich direkt neben BF niederließ, was alle maßlos überraschte, einschließlich BF . Von da an war Captain der Meinung, er sei ein Mitglied der Familie.
Ihre Familie. Das war etwas, worüber Mirja oft nachdachte.
Die Bewohner der Oyster Ridge Road waren nicht miteinander verwandt. Dogie war nicht ihr Vater, obwohl sie wünschte, er wäre es. Mr Beauchamp war nicht ihr Großvater, obwohl er sich so benahm. Und Signe? Sie war nicht Mirjas Mutter.
Aber trotzdem – Signe war immer da, auch in Mirjas frühesten Erinnerungen. Eigentlich war Signe in all ihren Erinnerungen. Mirja erinnerte sich ein bisschen an Meggie Marie. Sie erinnerte sich an ihre langen Haare, die ihren eigenen so ähnlich waren und sich so grundlegend von Signes kurzen Stachelzotteln unterschieden. Sie erinnerte sich an Meggie Maries Stimme. „W…w…wie eine Glocke“, sagte Dogie immer. Signes Stimme war leiser, ganz und gar nicht volltönend. Aber woran sich Mirja am meisten erinnerte, war Meggie Maries Lachen. Meggie Marie hatte stets und ständig gelacht. Sie fand alles lustig und gewöhnlich brachte sie auch alle anderen zum Lachen, sogar Signe.
Mirja erinnerte sich, wie sie gemeinsam mit Meggie Marie gelacht hatte.
Aber Meggie Marie war fortgegangen. Signe nicht.
Signe war geblieben.
Und jeden Abend, wenn Signe Mirja ins Bett brachte, küsste sie sie auf die Stirn und sagte: „Du und ich, kleine Motte. Du und ich.“ Und sieben Jahre lang hatte es keine große Rolle gespielt, dass Meggie Marie sich wieder in eine Meerjungfrau zurückverwandelt hatte und in den Wellen verschwunden war. Weil Signe da war, war das kleine Universum immer cooleoleo gewesen.
Bis heute.
Heute war alles schiefgegangen.
Heute hatte Mirja alles kaputt gemacht.
Heute hatte Mirja zum zweiten Mal in ihrem ganzen Leben Signe weinen sehen.
26 Signes Tränen hatten Mirja bis ins Mark erschüttert.
Signe weinte.
Signe weinte.
Signe weinte.
Mirja bekam Angst. Eine Angst, die so tief war wie der Ozean. Es war ihre allerallergrößte Angst; sie war so groß, dass sie sie niemals laut aussprechen würde, nie-nie-niemals. Und heute kam diese Angst wie eine hässliche Kröte aus ihr herausgekrochen: Wenn einem Mädchen die eigene Mutter einfach davonschwimmen konnte, was hielt dann alle anderen davon ab, ebenfalls zu verschwinden? Besonders wenn dieses Mädchen so viel Ärger gemacht hatte.
Die Angstkröte in Mirjas Bauch stieß ein lautes Qqqquuuaaaarrrk aus.
Wo zum Himmeldonnerwetter war denn der Mond?
Mirja zog probeweise am Tau des Bootes. Es war immer noch zu straff, als dass sie den Knoten hätte lösen können. Aber es würde nicht mehr lange dauern. Noch ein, zwei Zentimeter, schätzte sie, und dann würde das Tau durchhängen, woraufhin Punkt D in Punkt E und Punkt F übergehen würde. Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, bis das Wasser im Becken einen Zentimeter gestiegen war.
Dogie wüsste es. Dogie wusste alles über die Gezeiten, wie schnell sie stiegen und fielen.
Sie würde ihn danach fragen.
Wenn er nicht mehr böse auf sie war.
Was davon abhing, ob es ihr gelingen würde, alles wieder ins Lot zu bringen.
Seufz.
„Komm schon, Mond“, sagte Mirja und fügte ein genervtes „Grrrrr …!“ hinzu.
„Grrr …“, ließ sich BF halbherzig vernehmen.
Man sollte meinen, dass ein Hund, der sein ganzes Leben am Wasser verbracht hat, keine Angst davor hat. Aber BF war kein Wasserhund. Kein Labrador. Kein Golden Retriever. Kein Spaniel. Er war nicht dafür geschaffen, durch das Wasser zu paddeln oder in einen Teich zu springen oder über einen Fluss zu schwimmen. Er mochte nicht einmal das Bad, das ihm Mirja einmal pro Woche verabreichte.
Nein, Wasser war ganz und gar nicht BF s bevorzugtes Element. Und in dem kleinen Boot trennte ihn bloß eine dünne Planke von einer ganzen Menge Wasser. Biiiiiiittttte, lass uns heimgehen , winselte er. „Wuff“, sagte er.
In dem Moment, mitten in BF s Wuffen, kam eine Welle aus dem Nichts und schob sich unter das kleine Boot. Es stieß gegen den Anleger, wo es sich quietschend an den Holzbohlen rieb.
BF s Stimme passte hervorragend zu dem Quietschen. Bitte, bitte, bitte .
Aber so schnell sie gekommen war, verschwand die Welle auch wieder. Das Wasser wurde wieder ruhig und glättete sich. Mirja konnte nichts auf dem Wasser erkennen. Nur das zarte
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