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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathi Appelt
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Haus spukblau angestrichen.

48 Mirja merkte, dass der Wind auffrischte. BF und Captain hatten sich zu ihren Füßen eingekuschelt. Sie schienen über die Tatsache, dass sie gleich in den Kanal einfuhren, kein bisschen aufgeregt zu sein.
    Wie konnten die beiden nur in so einem Augenblick schlafen? Keiner von beiden zuckte auch nur mit der Wimper.
    Was für Faulpelze , dachte Mirja. Sie werden noch die Fahrt durch den Kanal verpassen!
    Was sie daran erinnerte, dass sie ein weiteres Opfer darbringen musste.
    Sie griff in den Schuhkarton und holte einen Meerling heraus.
    „Hallo, Ningyo“, sagte sie so leise, dass nur die winzige Holzfigur sie hören konnte. Sie wusste genau, wen sie erwischt hatte, auch ohne dass sie etwas erkennen konnte, und zwar wegen der Bissspuren im Holz, die von BF stammten.
    Es war im letzten Frühling gewesen. Als Mirja an diesem Tag von der Schule nach Hause kam, rannte sie in ihr Zimmer, holte die Meerlinge aus ihrem Rucksack, stopfte sie sich in die Hosentaschen und machte sich auf den Weg zum Bus. Dort wartete eine kalte Limonade auf sie, wie jeden Tag.
    Bei Dogie angekommen, holte sie die Meerlinge wieder aus ihren Taschen und stellte sie im Sand auf. Und während BF und Zwei dösten und Dogie etwas auf seinem Zeichenblock skizzierte, baute sie Sandhäuschen für ihre Figuren.
    Viel zu früh meinte Dogie, dass es Zeit wäre, den Bus abzuschließen. Sie schob die Meerlinge zusammen, steckte sie in ihre Taschen und half Dogie, die Sonnenschirme und die Liegestühle abzubauen und im Bus zu verstauen.
    Als Mirja zu Hause war, holte sie die Meerlinge hervor und stellte sie wieder auf ihre Kommode, wie jeden Tag.
    „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …“ Sie schrie auf. Es waren nur sechs.
    Sie zählte sie noch einmal und noch einmal. Eine Figur fehlte. Sie wusste gleich, welche es war.
    „Der Ningyo!“ Verzweifelt grub sie die Hand tief in die Hosentasche. Nichts.
    Sie wollte wieder hinaus zum Bus gehen, denselben Weg, den sie vorhin genommen hatte, aber es war schon dunkel draußen. „Auf keinen Fall, Fräulein“, sagte Signe, als Mirja ihr von ihrem Vorhaben erzählte. „Du wirst warten müssen, bis du morgen von der Schule heimkommst.“
    Mirja stampfte mit dem Fuß auf. „Aber …“
    Signe räusperte sich. Mit dem Fuß aufstampfen war nicht erlaubt in dem spukblauen Haus. Mirja ging wieder in ihr Zimmer. Die sechs verbliebenen Meerlinge schienen sie anzustarren. Sie drehte sie so, dass sie nicht in ihre anklagenden Gesichter blicken musste.
    Was hätte sie ihnen auch sagen sollen? Es gab keine Entschuldigung für das, was sie getan hatte. In dieser Nacht machte Mirja kaum ein Auge zu. Der Ningyo! Wie hatte sie nur den Ningyo verlieren können?
    Aber als sie am nächsten Morgen erwachte, stand BF neben ihrem Bett und wedelte begeistert mit dem Schwanz. Dann ließ er etwas auf das Kissen direkt vor ihrem Gesicht fallen.
    Der Ningyo! Mirja umarmte BF und rannte gleich zu Signe, um ihr die gute Nachricht zu überbringen. Erst als sie den kleinen Meerling zu den anderen auf die Kommode stellte – deren Gesichter sie jetzt wieder nach vorne drehte – bemerkte sie die Bissspuren.
    „Grrrr …“, knurrte sie BF an.
    „Grrrr …“, knurrte er zurück. Und sie brach in Gelächter aus.
    Der Schaden kümmerte sie überhaupt nicht, im Gegenteil. Sie liebte die wundervolle Schnitzerei genauso wie vorher. Und sie fand, dass die Narben die Figur noch echter wirken ließen. Sie bewiesen, dass es sie wirklich gab. Das allerdings sagte sie Signe nicht.
    Jetzt lag der Ningyo auf ihrer offenen Handfläche. Mirja kaute auf der Innenseite ihrer Wange. Sie hatte den Ningyo schon einmal verloren und jetzt würde sie ihn für immer verlieren.
    Der Ningyo war fast völlig fischförmig. Er hatte keine Arme und auch keine Brust oder Taille. Nur das Gesicht war menschlich. Er hatte einen langen, nur aus einer einzigen Strähne bestehenden Schnurrbart, der ihm wie die Barten eines Welses rechts und links vom Mund herabhing. Er blickte ernst drein, als wäre er böse wegen der Bissspuren in seinen hübschen Schuppen.
    Der Ningyo stammte aus dem weit entfernten Japan. Von Mr Beauchamp wusste Mirja, dass die Fischer diese Art von Meermensch aßen, wenn sie sie in ihren Netzen fingen, und dass ihr Fleisch als Delikatesse galt. Jeder, der vom Fleisch eines Ningyo aß, wurde tausend Jahre alt. „Älter als Methusalem“, hatte Mr Beauchamp gesagt.
    Mirja rollte die winzige Figur ein letztes Mal zwischen

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