Das Meer und das Maedchen
warten und warten, bis der Mond die Spitze des Himmels erobert hatte und der Kaktus, die Königin der Nacht, erblühen würde. Den ganzen Sommer lang hatte er darauf gewartet, dass sich die riesigen Blüten öffneten. Und heute, in der Nacht des blauen Mondes, würde es so weit sein. Obwohl er döste, wusste Signe, dass er rechtzeitig aufwachen würde, um mitzuerleben, wie die Knospen aufbrachen. Er wachte jedes Mal zur rechten Zeit auf.
Dann würde sich der intensive Duft der übergroßen Blüten über die Oyster Ridge Road legen und sie alle einhüllen.
Eine Tradition. Das war ihr Mondgumbo. Aber das Rezept verlangte noch eine weitere Zutat: einen Wunsch. Ganz unten am Ende der Zutatenliste stand: Man rühre einen Wunsch hinein.
Bislang hatte Signe immer Wünsche hinzugegeben, die mit Mirjas Gesundheit zu tun hatten, mit großzügigen Trinkgeldern der Kunden in der Prince Oyster Bar und preiswerten Reifen für den grünen Kombi. Aber nicht heute Abend. Heute Abend wollte sie sich wünschen, dass Dogie sein Lied für sie sang, das Lied, das nur aus zwei Worten bestand. Er und Mirja dachten zwar, dass keiner ihr Geheimnis kannte, aber Signe hatte ihn eines Tages, als sie Mirja am Bus abgeholt hatte, üben gehört.
Seit zehn Jahren wartete sie darauf, dass er dieses Lied für sie sang. Und heute Abend, wenn Mirja schlief und Mr Beauchamp zusah, wie sein herrlicher Kaktus die Blüten zum Mond erhob, würde es – vielleicht – endlich so weit sein. Wenn sie es sich nur fest genug wünschte, würde er sein Lied für sie singen, und sie würde ihm sagen, wie sehr sie ihn liebte, wie sehr sie ihn schon immer geliebt hatte. So hätte es sein sollen.
Aber jetzt, als der kalte runde Mond den östlichen Himmel tatsächlich erklomm, war nichts so, wie es hätte sein sollen. Kein Gumbo. Kein tanzendes Mädchen. Keine duftende Kaktusblüte. Und keine Ukulele.
Da lag Signe nun, ausgelaugt von dem heutigen Tag, und ahnte nicht, dass ihr Mädchen nur in Begleitung eines Hundes und einer lahmen Möwe auf dem Meer war. Und davontrieb.
Wach auf, Signe. Wach auf.
5 1 Es ist doch nur recht und billig, dass ein Mädchen alles über seine Mutter wissen will. Vor langer Zeit hatte Mirja Signe einmal gefragt: „Hat meine Mama mich lieb gehabt?“ Und ohne das kleinste Zögern hatte Signe geantwortet: „Ja, Mirja. Oh ja.“
Doch dann hatte Mirja eine weitere Frage gestellt: „Haben wir sie lieb gehabt?“
Diesmal dauerte es einen Moment, ehe Signe antwortete. Mirja kam es vor, als dehnte sich Signes Schweigen bis in alle Ewigkeiten, wie der vorletzte Schultag, der längste Schultag des Jahres. So lange ließ sich Signe mit ihrer Antwort Zeit. Doch dann schaute sie Mirja fest an und sagte: „Wir haben sie lieb gehabt, kleine Motte. Wir haben sie lieb gehabt.“
Die Sache war nämlich die: Mirja konnte sich nicht daran erinnern. Sie erinnerte sich nicht daran, Meggie Marie geliebt zu haben. Sie erinnerte sich nur an das Warten auf sie. Sind Lieben und Warten dasselbe? Mirja hatte sich diese Frage schon oft gestellt. Die Antwort wusste nur der Himmel.
Aber jetzt beschäftigte sie die Frage, wie sie in ihrem kleinen Boot auf De Vacas Felsen zusteuern konnte.
Bislang hatte sie die Punkte A bis F ihres perfekten Plans erfolgreich abgehakt. Punkt G war noch in vollem Gange. Sie näherte sich bereits Punkt H: durch den Kanal rudern . Und dann würde sie sich an Punkt I machen: zur Sandbank rudern .
Mirja wusste, was zu tun war: Sie musste den Flitzer so ausrichten, dass er mit dem Bug direkt auf die Wellen wies. Dann musste sie nur noch geradeaus zum Felsen rudern. Die Surfer machten immer einen großen Bogen darum, weil der Stein die Bretter zerkratzte. Aber sie würde geradewegs darauf zusteuern. Volle Kraft voraus! Alle Mann an Deck!
Aber dann kam Mirja ein beunruhigender Gedanke: Was, wenn die Sandbank im Rumpf des Flitzers eine Delle hinterließ?
Eine Delle in einem Surfbrett war ein Problem. Aber Surfbretter bestanden ja auch aus Fiberglas. Der Flitzer war aus viel stabilerem Holz gemacht. Mit ihren wunden und aufgeschürften Händen tätschelte Mirja behutsam die Seiten des Bootes. Jawohl, das Holz war fest und solide, ganz anders als diese empfindlichen Surfbretter mit ihrer dünnen Haut aus Fiberglas. Sie beschloss, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Überhaupt keinen.
Mirja rieb den Glücksbringer an ihrem Hals. Und dann sagte sie zu BF und Captain: „Ich habe einen Glücksbringer, also kann ich mir etwas wünschen,
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