Das Meer und das Maedchen
Notizzettel stand: über das Becken zum Kanal rudern . In ihrem Kopf las sich der Text jetzt: über das Becken zum Kanal treiben lassen . Auf diese Weise konnten sich ihre Hände ein wenig erholen, bevor sie das offene Meer erreichte, wo sie wieder rudern musste. Sie verstaute die Ruder unter dem Sitz und ließ das Boot treiben.
Im Augenblick zog das Wasser sie in genau die richtige Richtung! Großartig! Dann erinnerte sie sich an etwas.
„Wir müssen Yemayá ein Geschenk machen“, sagte sie zu BF .
Mr Beauchamp hatte ihr erklärt, dass Yemayá die große, allmächtige Mutter der Meere war. Aber er hatte auch von Yemayás Launen erzählt. „Wenn ihr ein Geschenk nicht gefällt, beschwört sie einen Sturm herauf, einen Hurrikan, vielleicht sogar eine Flutwelle.“ Nach einer kurzen Pause hatte er hinzugefügt: „ Vielleicht gewährt sie dir einen Wunsch, aber sie will immer etwas dafür haben.“
Mirja nahm den Deckel des Schuhkartons ab und holte einen der Meerlinge heraus. Sie hielt die Figur zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie war so klein, so weich. Mirja hielt die Figur dicht vor ihr Gesicht, um sie besser erkennen zu können.
„Ohhh, Sedna“, sagte sie. Sie strich zärtlich über die klobigen Hände, den Pelzkragen und das runde Gesicht der Holzfigur. Dabei wurde ihr die Kehle ein klein wenig eng und sie musste schlucken.
„Sedna“, sagte sie und musste ein zweites Mal schlucken, ehe sie fortfahren konnte. „Es tut mir leid, dass du so weit von zu Hause weg bist.“ Sedna war die uralte Göttin des Eismeeres, eine der berühmtesten und am meisten verehrtesten Meerfrauen.
Mirja hatte Sedna in einem Stück Tannenholz entdeckt, das vor ein paar Jahren nach einem Wintersturm ans Ufer gespült worden war. Sie erinnerte sich, dass sich das nasse Holz unter ihren Fingern fast wie Seide angefühlt hatte. Auch die kleine geschnitzte Figur fühlte sich so an. Wie Seide.
„Ich werde dich vermissen“, flüsterte sie.
Dann schaute sie hinaus in die dichte, tiefe Dunkelheit. „Yemayá“, rief sie, „große Mutter aller Meere. Ich habe ein Geschenk für dich.“ Und bevor sie es sich anders überlegen konnte, warf sie die winzige Figur in das brackige Wasser des Beckens.
Plopp! Mirja hörte das gedämpfte Aufplatschen und schloss die Augen. Sedna war einer ihrer Lieblinge, und sie bezweifelte, dass Mr Beauchamp ihr je wieder eine Figur schnitzen würde. Nicht nach dem, was heute passiert war.
Bei dem Gedanken an Mr Beauchamp und die geschnitzten Meerlinge fiel ihr ein, dass sie ihm erst vor Kurzem ein Stück Wacholderholz gegeben hatte, das sie gefunden hatte. Das Wacholderscheit lag immer noch auf dem kleinen Tischchen in Mr Beauchamps Haus, direkt neben dem Schnitzmesser. Mirja wusste genau, welcher Meerling sich darin verbarg, und sie hatte es Mr Beauchamp auch gesagt, aber bislang hatte er sich noch nicht ans Werk gemacht. Und jetzt war er so böse auf sie, dass er es wohl auch nicht mehr tun würde.
Sie schaute in den Schuhkarton, wo noch fünf Meerlinge auf dem alten lilafarbenen T-Shirt lagen. Sie klopfte leicht auf ihre Hosentasche. Dort steckte Nummer sechs. BF winselte.
Und über ihren Köpfen erklang Captains Ruf.
„Komm her! Komm her!“
44 „Komm her! Komm her!“ Das war alles, was Captain jemals sagte.
Aber jeder, der schon einmal den Gesprächen der Möwen gelauscht hat, weiß, dass dies eben die Möwensprache ist. Egal in welchem Hafen, auf welchem Fluss oder See, überall besteht der Wortschatz einer Möwe bloß aus diesem einen Komm-her-komm-her.
Nur wenige Menschen verstehen die Sprache der Möwen. Dazu gehören Shrimpsfischer. Die wissen, was es heißt, wenn eine Möwe Komm-her-komm-her schreit. Es heißt: „Komm her und wirf mir einen Happen zu!“
Das ist auch der Grund, warum Shrimps-Fischer immer von Möwen belagert werden. Die Fischer verstehen die Möwen.
Auch die kleinen Kinder am Strand können sie verstehen. Möwen lieben diese winzigen Menschen. Möwen lieben es, dicht vor ihnen herzufliegen und sie zum Fangenspielen einzuladen. „Komm her, komm her!“, rufen die Möwen, und schon fangen die Winzlinge an zu rennen.
Damals, als sein Flügel noch heilen musste, brachte Captain den Leuten in dem spukblauen Haus die Bedeutung dieses „Komm her, komm her“ bei. Wenn er jetzt morgens aus seinem Nest auf die Veranda vor der Küchentür geflogen kam und laut und deutlich sein Komm-her-komm-her aufsagte, öffnete Mirja die Tür für ihn und ließ ihn ein. Dann gab
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