Das Meer und das Maedchen
Quallen mit ihren stechenden Tentakeln waren ein Warnzeichen. Auch ein pinkfarbenes Band war ein Zeichen. Es war ein Zeichen für Signes Liebe.
Aber keines dieser Zeichen hatte etwas mit Meerjungfrauen zu tun. Oder doch? Wie sonst konnte man die Sache mit der Seekuh erklären? Mr Beauchamp selbst hatte ihr erzählt, dass Seekühe oft die Gefährten von Meerjungfrauen sind. Sogar Christoph Kolumbus hat in seinen Reiseaufzeichnungen die Vermutung angestellt, dass Seekühe und Meerjungfrauen zusammen schwimmen. Wenn man eine von beiden sah, war die andere nicht weit entfernt.
„Seekühe sind riesig“, erklärte sie BF , der immer noch zusammengerollt zu ihren Füßen lag. „Wie kleine Elefanten“, fügte sie hinzu.
Aber wie war es dann möglich, hatte sie Mr Beauchamp gefragt, dass die Seekuh, die sie erst vor ein paar Tagen im Becken gesehen hatte, durch die enge Rinne geschwommen war?
„Einige Dinge“, hatte Mr Beauchamp geantwortet, „kann man nicht erklären.“
Mirja holte tief Atem. Selbst bei Flut war das Wasser im Becken flach, nicht mehr als einen Meter fünfzig an der tiefsten Stelle. Wenn sie aus dem Boot steigen würde, könnte sie vermutlich stehen, wenn auch nur auf Zehenspitzen. Und das Wasser in der Rinne war noch seichter.
Viel zu seicht für eine Seekuh.
Aber seicht oder nicht, sie hatte eine Seekuh gesehen. Mirja hatte auf der Veranda gestanden, ein Zitronenwassereis geschlürft und den Tropfen zugeschaut, die über ihren Handrücken flossen und auf den Muschelschalensplittern unter ihr landeten. BF lehnte sich gegen sie. Seine Zunge tropfte wie das Wassereis. Flinker als ein Sandfloh streckte er den Kopf vor und verpasste dem Zitroneneis einen Flüchtikuss.
„Grrrr!“, sagte Mirja. Dann fügte sie hinzu: „Du bist wahrscheinlich der einzige Hund auf Gottes großer weiter Welt, der Zitroneneis mag.“ BF wedelte zustimmend mit dem Schwanz. Sie ließ ihn noch einmal lecken. Die Sommerluft war so still wie ein Stein.
Und da hörte sie ein Platschen aus Richtung des Beckens. Wenn auch nur ein leichter Wind geweht hätte, der Hauch einer Brise, hätte sie das Platschen vermutlich gar nicht gehört. Der Wind hat die Eigenart, Geräusche zu verschlucken.
Aber an diesem windlosen Tag hörte sie es. Platsch! Sie schaute von ihrem Zitroneneis auf, gerade noch rechtzeitig, um zu beobachten, wie eine riesige Kreatur, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, sich aus dem Wasser erhob und wieder darin verschwand. Sie blinzelte in der Mittagssonne. Das Funkeln auf dem Wasser war gleißend hell.
Platsch! Da war es wieder. Riesig und graubraun. Unglaublich groß. Ein Wal, aber auch kein Wal. Ein Walross, aber auch wieder nicht. Doch bevor sie aus ihrer Starre erwachte, bevor sie die Treppe hinunter und zum Becken rennen, bevor sie Signe rufen konnte, war die gigantische Kreatur verschwunden. Aber Mirja wusste, was sie gesehen hatte.
„Eine Seekuh“, sagte sie zu BF .
Es war ein Zeichen.
Den ganzen Tag hatte sie mit BF am Ende des Anlegers gesessen und auf das steigende und fallende Wasser des Beckens geschaut. Doch die Seekuh zeigte sich nicht mehr.
Als sie Signe später erzählte, was sie gesehen hatte, sagte Signe: „Vielleicht … durchaus möglich.“ Doch dann ergänzte sie: „Aber es ist sehr unwahrscheinlich, Mirja. Seekühe leben in Florida und bei den Westindischen Inseln. So weit nach Westen schwimmen sie selten.“
Mirja wusste es besser.
Als sie jetzt immer näher auf den Kanal zutrieb, dachte sie an die Seekuh. Wo eine Seekuh war, da war auch eine Meerjungfrau.
„Sie reisen zusammen“, hatte Mr Beauchamp gesagt.
Da war es also. Ein weiteres Zeichen. Sie war sich ganz sicher.
Seekühe konnten nicht durch den schmalen Kanal schwimmen. Und doch hatte es eine getan.
60 In seinem orangegelben Haus fühlte Dogie die kalte, nasse Nase von Zwei an seiner Wange, aber er öffnete die Augen nicht. Stattdessen tätschelte er dem kleinen Hund den Kopf und drehte sich auf die andere Seite. Der Tag war viel zu lang gewesen und er wollte nur noch schlafen. Er zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. Vielleicht verschlief er am besten den ganzen restlichen Sommer, das restliche Jahr oder gleich sein restliches Leben.
Die Ereignisse des vergangenen Tages hatten ihm seine ganze Kraft geraubt. Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen.
Er war noch vor Sonnenaufgang zum Strand gegangen. Das Gras des Sumpflandes hinter ihm hatte in der Morgenbrise gerauscht.
Er warf das runde Netz über
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