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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathi Appelt
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worden waren, der in Galveston sein Quartier hatte. Er war erst fünfzehn, als er auf dem Schiff als Stallbursche anheuerte und über den Atlantik fuhr.
    Mr Beauchamp liebte die Pferde. Und sie liebten ihn. Sie schätzten seine ruhige Art, seine sanfte Berührung und seine freundliche Stimme. Und sie waren dankbar für seine Fürsorge, wenn das Schiff in der unruhigen See hin und her geworfen wurde.
    Mr Beauchamp hatte nie vorgehabt, an diesem Küstenabschnitt von Texas zu bleiben. Und es wäre wohl auch nie so gekommen, wenn sein Schiff nicht auf der Sandbank auf Grund gelaufen wäre, genau dort, wo es seinerzeit auch Cabeza de Vaca erwischt hatte. Er war nicht der Erste und er würde auch nicht der Letzte sein. Die Nacht war stürmisch und Mr Beauchamps Schiff nahm Wasser auf. Die Pferde gerieten in Panik. Er beeilte sich, sie sicher von Bord zu bringen. An Land flüchteten sie sich in das mit Salzgras bewachsene Feuchtgebiet, das den Sümpfen in der Camargue ähnelte, jener Landschaft, die sie zurückgelassen hatten.
    Noch etwas war in Frankreich zurückgelassen worden. Ein anderer.
    Jemand, mit Augen so blau wie der Himmel und Haaren so schwarz wie die Nacht.
    Jetzt, nach all den Jahren, hielt Mr Beauchamp die abgebrochene Knospe in der Hand und erinnerte sich.
    58 Zwei Jungen.
    Das erste Mal hatte Henri Beauchamp Jack auf dem Markt gesehen, dem Hauptplatz in seinem Dorf, Les Saintes-Maries-de-la-Mer, das nach den drei biblischen Marien benannt war, die hier nach ihrer Reise übers Meer an Land gegangen waren.
    Eines Nachts, nachdem Henri die Pferde gefüttert und getränkt hatte, wenige Wochen, bevor er mit ihnen über den weiten Ozean zu einem Ort namens Texas segeln würde, wusch er sein Gesicht, zog sein neues Jackett an und ging zum Marktplatz. Wenn ein Junge fünfzehn Jahre alt ist und sich daranmacht, übers Meer zu segeln, ist sein Schritt leicht. Sein Herz ist weit geöffnet, bereit, das Leben einzulassen. Er ist zu aufgeregt, um zu schlafen.
    Die Straßen waren still zu dieser späten Stunde. Vor einer Taverne kehrte der Wirt die Stufen, nachdem der letzte Gast gegangen war, und der Bäcker schloss seinen Laden ab. Die Kirchenglocke schlug elf Uhr. Henri schaute zum Kirchturm und dann zum Friedhof.
    Dort, in dem Lichtkegel einer Straßenlaterne, stand Jack, den Rücken dem Brunnen zugewandt. In der Hand hatte er ein Häufchen Münzen, die er über die Schulter warf. Er lauschte auf das Geräusch, wenn sie das Wasser trafen.
    Plink, plink, plink . Es klang fröhlich, als ob jemand Klavier spielen würde.
    Henri hatte noch nie jemanden gesehen, dessen Gesicht so schön war wie das des Jungen. Henri hielt den Atem an. Ihm war schwummrig.
    Schwummrig.
    Was für ein herrliches Wort.
    Und ringsum öffneten die nachtblühenden Kakteen ihre riesigen Blüten und schwängerten die Luft mit ihrem Duft, einem Duft, der so betörend war, dass beiden Jungen schwindelig wurde.
    Nacht für Nacht trafen sich die beiden am Brunnen, immer erst spät, wenn die Händler ihre Geschäfte abgeschlossen und die Passanten nach Hause gegangen waren, wenn alle schon tief und fest schliefen, außer vielleicht dem Bäcker, aber der war viel zu beschäftigt, um auf zwei Jungen zu achten, die noch spätabends unterwegs waren.
    Dort, am Fuß der sprudelnden Fontäne des Brunnens redeten sie stundenlang. Worüber sie redeten? Über alles! Über Pferde und den Zirkus, über nachtblühende Blumen und die ganze weite Welt und … und … und eines Nachts, nachdem sie aufgehört hatten zu reden, griff Jack in seine Hosentasche, zog eine Handvoll Münzen hervor und warf sie in den Springbrunnen, genau wie an jenem ersten Abend.
    „Was machst du da?“, fragte Henri.
    „Mir was wünschen“, erwiderte Jack.
    Bei diesen Worten nahm Henri Jacks Hand. Jack verschränkte seine Finger mit Henris.
    Ein Wunsch war in Erfüllung gegangen.
    Am nächsten Morgen, gerade als die Sonne aufging und kurz bevor sie sich trennen mussten, schoss eine Katze hinter dem Springbrunnen hervor und rannte zwischen ihren Beinen hin und her, sodass sie beinahe das Gleichgewicht verloren.
    So plötzlich, wie sie aufgetaucht war, verschwand die Katze wieder hinter dem Brunnen. Einen Augenblick später trat eine große, muskulöse Frau auf den Platz, einen Korb mit fauligem Fisch in der Hand. Sie marschierte geradewegs auf die beiden Jungen zu, zwängte sich zwischen sie und blieb stehen.
    Henri schaute ihr ins Gesicht. In ihrer Haut waren Millionen Fältchen und

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