Das Meer und das Maedchen
Runzeln eingegraben. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der so alt war wie diese Frau. Aus ihrem Korb stieg der ranzige Geruch toter Fische auf. Er rümpfte die Nase.
Mit bösem Blick starrte sie ihn an. Dann wandte sie sich Jack zu. Jack machte einen Schritt rückwärts und bedeckte das Gesicht mit dem Arm. „ Ma’aama “, stammelte er.
Henri hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging. Aber er sah, dass Jack diese alte Frau kannte. War sie seine Mutter? Er wollte nach Jack greifen.
„Halt!“, sagte die alte Meerfrau und stieß seinen Arm beiseite. Dann streckte sie die Hand nach Jack aus. „Hast du nichts für deine alte Ma’aama? “, fragte sie.
Jack errötete und tastete nach einer Münze oder einem Tüchlein, das er ihr schenken könnte, aber seine Taschen waren leer.
Sie fing an zu lachen, aber es war kein schönes Lachen. „Dein Wunsch hat sich erfüllt, was?“, sagte sie und nickte in Henris Richtung. Dann fügte sie hinzu: „Hast du wirklich nichts mehr für deine Ma’aama? “ Jacks Gesicht wurde kreideweiß im schwindenden Dunkel der Nacht.
Da drehte die Frau sich wieder zu Henri um. Er schrumpfte buchstäblich unter ihrem Blick. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte zu ihm: „Er ist nicht von deiner Art, mon .“
„Hör nicht auf sie!“, rief Jack. „Sie ist nur ein altes Fischerweib.“
Als Henri über die Schulter der alten Frau in das Gesicht seines Freundes blickte, fing sein Herz heftig an zu pochen. Er sah Jacks blaue Augen und die Angst in seinem Antlitz. Woher kannte er die alte Vettel?, fragte er sich. Er hatte sie „Ma’aama“ genannt.
„Er ist nicht von deiner Art“, sagte sie wieder.
„Achte gar nicht auf sie!“, beharrte Jack.
Henri war verwirrt. Die alte Frau starrte ihn an. Endlich fand er seine Sprache wieder. „Geh deiner Wege, Mütterchen“, sagte er mit derselben sanften Stimme, mit der er auch die Pferde beruhigte.
Sie zuckte die Schultern. „Gehen werde ich, so viel ist sicher.“ Sie wandte sich noch mal zu Jack, der die Hände in den Taschen vergraben hatte. Er schaute sie nicht an. Sein Blick war auf seine Füße gerichtet.
„Hier ist nichts zu holen für eine alte Frau wie mich“, sagte sie. Sie rieb sich ihren mächtigen runden Bauch und fing wieder an zu lachen.
„Da hast du wohl Recht“, sagte Henri.
Die alte Frau hörte auf zu lachen und leckte sich über die Lippen. Dann packte sie den Korb mit beiden Händen und schlurfte davon. Er sah, wie sie am Ende des Platzes verschwand. Und plötzlich war die große Katze wieder da. Ihr Schwanz zuckte von einer Seite zur anderen.
Henri dachte daran, was die alte Frau gesagt hatte: „Er ist nicht von deiner Art.“ Mit einer Handbewegung wischte er die Worte beiseite.
Kümmere dich nicht darum, wollte er sagen, aber als er den Blick von der Katze wandte, war Jack fort. Verschwunden.
Was er im bleichen Licht des frühen Morgens nicht sehen konnte: Die Katze war ein Kater und der Kater hatte nur ein Auge.
Jetzt, nach all den Jahren, saß Mr Beauchamp, dessen Gesicht mittlerweile genauso runzelig war wie das des alten Weibes am Brunnen von Les Saintes-Maries-de-la-Mer, auf seiner Veranda, weit, weit weg von Frankreich, und rührte sich im Schlaf.
Er streichelte Sindbad. „Wir sind hier schon seit sehr langer Zeit, nicht wahr?“
Sindbad blinzelte mit seinem gesunden Auge und schnurrte.
Ja , dachte der Kater, eine ungeheuer lange Zeit.
59 Gerade als Mirja anfing zu glauben, dass es ungeheuer lange dauern würde, bis das Boot den Kanal erreichte, war er ganz plötzlich keine fünfzehn Meter mehr von ihr entfernt. Sie schluckte. Von ihrer Position aus wirkte die Rinne unglaublich schmal. War sie etwa zu eng für den Flitzer? Panik schoss durch ihren Körper. Was, wenn sie stecken blieb? Würde das Boot Wasser aufnehmen und sinken? Und dann? Würde es die Gezeiten an ihrem Kommen und Gehen hindern? Und wie sollte sie es wieder flottbekommen, wenn sie tatsächlich stecken blieb?
Eine ganze Litanei aus Was-wäre-wenns ratterte durch ihren Kopf, während das Boot mit jeder Sekunde näher und näher an die Mündung der Rinne trieb.
„Herrgott noch mal!“, rief sie, ein Ausdruck, den sie – ähnlich wie „verdammt“ – nicht in den Mund nehmen sollte, wenn es nach Signe ging. „Herrgott noch mal!“, sagte sie ein zweites Mal.
Doch dann fiel ihr etwas ein: die Seekuh!
Mirjas kleines Universum war mit Zeichen gespickt. Die Wolken waren ein Zeichen für das Wetter. Die
Weitere Kostenlose Bücher