Das Meer und das Maedchen
ihr: Jacques de Mer! Jedes Mädchen, das an der Küste von Texas aufwächst, kennt die Geschichte von Jacques de Mer.
62 Jede Region hat ihre magischen Wesen. In den uralten Wäldern des Nordwestens, entlang des Pazifiks, lebt Sasquatch. Unter den mächtigen Kiefern von Alabama wandert Bigfoot einher. Und an der texanischen Küste gibt es Jacques de Mer.
Man erzählt sich, dass einmal eine Familie am Strand ein Picknick machen wollte. Mutter, Vater, ein kleines Mädchen und ein ganz kleiner Junge – er konnte kaum laufen, so klein war er.
Der Junge war sehr still und die Küste sehr laut, erfüllt von dem Brausen der Wellen, dem Gekreische der Vögel und dem Pfeifen des Windes. Die Familie verbrachte den Vormittag damit, im seichten Wasser zu waten. Das kleine Mädchen rannte in den flachen Wellen hin und her und lachte vor Vergnügen. Vater und Mutter ließen es nicht aus den Augen. Abwechselnd hielten sie den kleinen Jungen an der Hand. Der kleine Junge sah seiner großen Schwester zu. Er wollte auch in den Wellen spielen. Aber Mutter und Vater hielten seine Hand ganz fest.
Doch irgendwie, irgendwann, da ließen sie ihn los. Er war so still. Und das Meer war sehr laut. Ehe sie sichs versahen, war er fort.
Sie waren in heller Aufregung. Die Mutter weinte und weinte. Der Vater rief und rief. Das kleine Mädchen rollte sich im Sand zu einer Kugel zusammen, machte sich so klein, wie es konnte, und verbarg das Gesicht in den Händen.
Es dauerte nicht lange, da hatten sich viele Menschen versammelt, die bei der Suche halfen. Aber vergeblich. Der kleine Junge war fort. Verschwunden.
Einige Tage später schaute ein Shrimpsfischer von seinen Netzen auf und sah einen Mann im Meer schwimmen. Es war aber kein gewöhnlicher Mann. Sein Oberkörper war der eines Mannes, doch darunter war er ein Fisch. Über seinen Rücken verlief eine mächtige Flosse. Ein Mann des Meeres. Und in seinen Armen hielt er den schlaffen Körper des kleinen Jungen.
Der Fischer war außer sich. Er rief seine Kameraden zusammen, zeigte ihnen den Meermann und rief: „Er hat den Jungen getötet!“
Und alle riefen sie: „So ein Ungeheuer! Tötet das Ungeheuer!“
Niemand sonst hatte den Meermann gesehen, niemand außer der Besatzung des Fischerbootes. Aber sie sahen, wie der Leichnam des kleinen Jungen sanft von den Wellen ans Ufer getragen wurde, im Tod so still wie im Leben, so still, so still. Und niemand zweifelte daran, dass dieses Seeungeheuer, halb Fisch, halb Mann, den Jungen auf dem Gewissen hatte.
Und so hielt man Jacques de Mer für den Schuldigen. Nicht die tückische Brandungsströmung, die einen Menschen hinaus aufs Meer zieht. Nicht die Untiefen, in denen man versinkt. Nicht den Sog der Wellen, die locken, locken, locken.
Hüte dich sehr vor Jacques de Mer.
Hüte dich sehr.
63 BF spürte, wie der Flitzer Fahrt aufnahm. Er legte den Kopf zwischen die Pfoten. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als im Boot zu kauern und sich Sorgen zu machen. Wo, so fragte er sich, wo war bloß Signe?
Als ob er sich dieselbe Frage stellte, ließ sich Captain vernehmen: „Komm her! Komm her!“ In Wirklichkeit meinte er damit: Wo zum Donner ist meine Wassermelone? Aber niemand beachtete ihn.
BF s Winseln und Captains Gekreische konnten Mirjas Gedanken nicht von dem Kanal ablenken, der sich vor ihr öffnete. Die Mündung war nur noch ein kleines Stück entfernt. Sie verengte die Augen, während sie ihre Lage abschätzte. Ja, die Mündung wirkte jetzt größer. Ja, es sah ganz so aus, als ob sich ein Boot gerade so hindurchquetschen konnte. „Ja!“, rief sie aus.
Sie wartete darauf, dass BF mit seinem Gebell in ihren Jubel mit einfallen würde, aber außer einem dünnen Winseln war nichts zu hören.
Der Mond, der ein Stückchen höher in den Himmel gerückt war, legte einen breiten Streifen Licht über sie. Mirja atmete erleichtert auf. Die ganze Sache sah jetzt schon viel überschaubarer aus.
Sie warf einen Blick auf den Schuhkarton unter dem Sitz und schaute dann wieder auf den Kanal. Ja, es blieb noch genug Zeit. Sie nahm eine weitere Figur aus dem Karton.
Lorelei.
Wenn sie jetzt noch ein Opfer darbrachte, würde sie ganz sicher durch den Kanal kommen.
Lorelei war aus einem länglichen Stück Kiefernholz geschnitzt. Kiefernplanken fanden sich häufig am Strand.
„Vermutlich von einem alten Haus, das die See mitgerissen hat“, hatte Mr Beauchamp gesagt. Mirja wusste, dass es entlang der Küste viele verlassene Gebäude gab, alte
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