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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathi Appelt
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zurückgekehrt, in der Hoffnung, seinen Freund dort zu treffen. Er verstand nicht, warum Jack einfach so weggerannt war. Nacht für Nacht kam Henri zum Brunnen und Nacht für Nacht wartete er vergeblich auf ein Zeichen von Jack.
    Der Brunnen. Wie viele hatten dort schon im Mondlicht Händchen gehalten und sich gegen den Marmor gelehnt? Hatten sich etwas gewünscht? Leise miteinander geflüstert?
    Dann war die Nacht gekommen, vor der Henri sich gefürchtet hatte. Die letzte Nacht, ehe er auslaufen musste. Am nächsten Morgen würde er mit seinen weißen Pferden aus der Camargue in See stechen und nach Texas fahren. Er hatte keine Ahnung, wie lange er fort sein würde. Ein Jahr? Zwei Jahre? Sein Schiff fuhr nach Galveston, aber von dort aus konnte es überall hingehen. Er war nur ein Stallbursche. Die Pläne des Kapitäns kannte er nicht. Er wusste nur, dass sein Schiff bei Tagesanbruch losfahren würde. Und er hatte keine Ahnung, wie er Jack finden sollte.
    Als Henri in jener letzten Nacht zum Brunnen kam, war sein Herz schwer. Er wartete und wartete. Aber dann, gerade als er sich zum Gehen wenden wollte, fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er erkannte die Berührung sofort.
    In diesem Augenblick fühlte sich Henri, als würde er schweben, als würde sich sein Körper von dem Pflaster unter seinen Füßen erheben. Im Angesicht der Liebe hatte die Schwerkraft keine Macht mehr über Henri Beauchamp.
    Aber ihr Glück wurde durch Henris Abreise in Stücke geschlagen. In der Morgendämmerung musste er Jack zurücklassen.
    Keiner von beiden wusste, was er sagen sollte oder wie er es sagen konnte. Egal, wie sehr Henri die Sonne anflehte, sie möge ihren Lauf verlangsamen, die Stunden flogen dahin. Die Nacht erhellte sich. Endlich war die Zeit gekommen. Henri ließ den Kopf hängen.
    Doch da, noch während der Mond Wache stand, nahm Jack ein letztes Mal Henris Hand und legte ein Geschenk hinein. Einen Porte-bonheur. Eine runde Scheibe in seiner Hand. Sie hatte die Form einer großen Münze und hing an einer dünnen goldenen Kette. Das Gold schimmerte in seiner Hand. Henri hielt die Scheibe in die Höhe und drückte sie gegen sein Herz.
    „Wenn du mich brauchst“, sagte Jack, „musst du nur diesen Anhänger in deine Hand nehmen und dir etwas wünschen.“ Stumm betrachtete Henri die schimmernde Scheibe. Er schloss die Finger darum. Sie war so warm wie ein Sonnenstrahl.
    Henri verspürte einen Kloß im Hals. Er musste etwas sagen, aber er hatte Angst, dass Worte alles ruinieren würden.
    Stattdessen steckte er den Porte-bonheur in die Tasche. Er spürte die Wärme noch durch den Stoff seiner Jacke auf der Haut. Er schluckte schwer. Dann machte er endlich den Mund auf und sagte: „Ja, ich werde ihn mitnehmen und mir wünschen, dass du den ganzen Weg nach Texas geschwommen kommst, zu mir.“ Dann brachen beide Jungen in lautes Gelächter aus.
    Fünfzehn. Sie waren erst fünfzehn Jahre alt. Mit fünfzehn erscheint doch alles möglich. Warum nicht auch von Frankreich nach Texas zu schwimmen?
    Wie um den Handel zu besiegeln, kam der einäugige Kater herbei und schlängelte sich zwischen ihre Beine. Er schnurrte. Aber als Henri sich bückte, um den großen Katzenschädel zu streicheln, hörte er, wie sich schwere Schritte näherten. Er sah Jack an. Jacks Gesicht erbleichte im Mondlicht.
    „Ma’aama!“, rief Jack.
    Da war es wieder, das alte Weib von neulich. Der Gestank nach fauligem Fisch stieg aus dem Korb an seinem Arm auf. Er brannte in Henris Nase und in seinen Augen.
    Diesmal ignorierte die Frau Jack und kam geradewegs auf Henri zu. „Da stehst du und redest von Wünschen, dabei hast du kein Geschenk für mich, oder?“, beschuldigte sie ihn und starrte ihn dabei an.
    Henri sagte sanft: „Geh deiner Wege, Mütterchen.“
    Aber sie packte ihn am Ärmel und funkelte ihn mit meerblauen Augen an. „Kannst du es nicht begreifen?“, sagte sie. „Er gehört mir, nicht dir.“
    „Aber …“, stotterte Henri.
    Sie schnitt ihm das Wort ab und sagte, wie beim ersten Mal: „Er ist nicht von deiner Art, mon .“
    Henri zog seinen Ärmel aus der faltigen Hand. Der Gestank nach totem Fisch sickerte um seine Füße. Er hatte das Gefühl, er würde darin versinken. Er griff in seine Jackentasche. Der Porte-bonheur war noch warm von Jacks Hand.
    Er hatte keine Angst vor der alten, runzeligen Frau, aber er war verwirrt. Wer war sie? Wieder fragte er sich, ob sie Jacks Mutter war. Aber im nächsten Moment marschierte sie

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