Das Meer und das Maedchen
keine Luft mehr. Die Küste war verschwunden, und mit ihr die Sandbank.
Atmen, atmen! , befahl sie sich. Sie riss den Mund auf und sog keuchend Luft ein. Dann schaute sie sich angestrengt um. Nirgends war eine Spur von Land zu erkennen. Nur Wellen. Nichts als Wellen.
Auch der Mond stand weder im Osten noch im Westen, weder im Norden, noch im Süden. Er hing direkt über ihr, am höchsten Punkt der Himmelskuppel. Er war kleiner als zuvor. Weiter weg.
Sie musste etwas tun. Wünschen und beten brachten sie nicht weiter. Also nahm Mirja das Ruder, aber noch bevor sie es ins Wasser tauchte, wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung hatte, wohin sie steuern sollte. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Was, wenn sie anfing zu paddeln und sich dabei immer weiter von der Küste wegbewegte? Außerdem taten ihr die Hände viel zu weh, um das Ruder auch nur festzuhalten.
Sie ließ das Ruder fallen und beugte sich so weit vor, dass sie die Stirn auf die Knie legen konnte. Sie würde bis zum Morgen warten müssen, bis sie wieder Land sehen konnte. Aber wie lange würde das dauern? Und dann kam ihr eine zweite, weit beunruhigendere Frage in den Sinn: Was wäre, wenn die Wellen sie bis dahin so weit hinausgetragen hatten, dass sie die Küste auch bei Tageslicht nicht mehr sehen konnte?
Was dann?
Da wusste sie, dass es Zeit war, ihre Mutter zu rufen, De Vacas Fels hin oder her. Punkt J.
Langsam und vorsichtig stand sie auf und rief: „Ich bin’s! Mirja!“ Sie lauschte.
Aber alles, was sie hörte, war das Platschen der schwarzen Wellen gegen den Rumpf des Bootes.
Sie rief noch einmal: „Ich bin hier! Deine Mirja ist hier!“
Sie lauschte wieder und diesmal glaubte sie, ihren eigenen Namen zu hören, wie ein schwaches Echo: Mirja. Mirja.
Oder war es bloß der Wind?
Sie setzte sich wieder hin und dabei pikste sie die geschnitzte Yemayá in die Hüfte. Sie erinnerte sich.
„Wenn du ihr ein Geschenk machst, dann erfüllt sie dir vielleicht einen Wunsch.“ Das hatte Mr Beauchamp zu ihr gesagt.
Ein Geschenk. Sie hatte ihr bereits fünf Geschenke gemacht. Aber sie besaß noch mehr. Mirja griff nach unten in ihren Schuhkarton. Er war völlig durchgeweicht, aber im Inneren lag noch eine Figur. Sie holte sie heraus. „Die Rusalka“, sagte Mirja mit zitternder Stimme. Rusalki waren berühmt für ihre Hinterlist. Sie warfen ihre Schwänze ab und kletterten in Bäume, um harmlose Wanderer zu erschrecken.
Rusalki kämmten niemals ihr moosgrünes Haar, aber sie liebten es, sich im Kreis zu drehen. Genauso, wie sich jetzt der Flitzer auf dem Meer im Kreis drehte.
Dreh dich, dreh dich voller Wonne.
Dreh dich im Wasser.
Sie fühlte sich betrogen. Die Brandungsströmung hatte ihr ein Schnippchen geschlagen.
„Geh!“, sagte sie zu der Figur. Aber bevor Mirja die Rusalka ins Wasser legte, drückte sie ihr einen Kuss auf den Kopf und sich selbst eine große Hoffnung ins Herz.
„Hilf mir, meine Mutter zu finden!“
77 Zwei hob zum zigsten Mal den Kopf von Dogies Kissen und schnüffelte. Der aufziehende Sturm rückte näher. Der Mond vor dem Fenster schlüpfte von einer Wolke zur nächsten. Wollte ihm der Mond etwas mitteilen?
Was war es bloß? Ganz plötzlich wusste Zwei, dass er Dogie wecken musste.
„Jap, jap, jap!“, kläffte er. Dann packte er Dogies Decke mit seinen winzigen Zähnen und zog daran.
78 In dem spukblauen Haus bewegte sich Signe im Schlaf. Ein Mondstrahl schlüpfte durch ihr Fenster und verschwand dann wieder. Die plötzliche Dunkelheit war überwältigend. Signe erwachte, streckte die Hand aus und schaltete das Licht an ihrem kleinen Wecker an. Der grüne Schein beleuchtete die Ziffern. 12 Uhr. Mitternacht.
Merkwürdig , dachte sie, dass ich gerade um Mitternacht wach werde .
Dann lugte der Mond wieder herein, als wollte er spielen. Signe blinzelte.
So schnell, wie er gekommen war, verschwand er wieder. Im Dunkeln rieb sich Signe die Augen. Morgen, entschied sie, würde sie mit Mirja reden. Sie würde ihr klarmachen, dass Krabben nicht sprechen konnten, dass es in dieser Gegend keine Seekühe gab und auch keine Seeschlangen, keine Drachen und keine anderen Zauberwesen. Keine Spuks.
Vor allem würde sie Mirja sagen, dass es keine Meerjungfrauen gab.
Signe zog die Decke bis unters Kinn und legte sich auf die Seite, sodass sie den lockenden Mond vor dem Fenster nicht mehr sehen konnte.
Und draußen auf dem weiten Ozean schaute BF genau zu jenem Mond und wünschte sich inständig: Wach auf, Signe, wach
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