Das Meer und das Maedchen
Tropfen wie Diamanten.
Wahrscheinlich hatte sie sich genau in diesem Augenblick in ihn verliebt, genauso wie sie sich in Meggie Maries Baby verliebt hatte.
Aber sie merkte nicht, dass sie sich in Dogie verliebt hatte – oh nein, da noch nicht. Es dauerte sehr, sehr lange, bis ihr das klar wurde. Was sie merkte, war, dass sie ein neugeborenes Baby in den Armen hielt, mitten im Golf von Mexiko, direkt vor der texanischen Küste, in der Nähe einer kleinen Stadt namens Tater, irgendwo zwischen Galveston und Corpus Christi. Die Wellen schoben und drückten gegen sie an und versuchten sie umzuwerfen. Natürlich kommen Babys schon mal auf dem Meer zur Welt, auf Schiffen etwa. Aber wie viele werden tatsächlich im Meer geboren?
Signe stand im salzigen Wasser und betrachtete das Baby in ihren Armen. Ein Mädchen. Sie hielt ein kleines Mädchen in den Händen. „Hallo, kleine Motte“, flüsterte Signe dem Baby ins Ohr. Signes Stimme war die erste Stimme, die Mirja hörte. Und seitdem war es morgens die erste und abends die letzte Stimme, die sie vernahm.
Signe hatte zugeschaut, wie Dogie Mirjas Nabelschnur mit seinem Taschenmesser durchtrennte, Meggie Marie hochhob und zurück an Land trug, am Bus vorbei, bis zu ihrem Haus in der Oyster Ridge Road.
Er ließ seine Surfbretter und Sonnenschirme unbeaufsichtigt. Ließ den Strand und die Wellen hinter sich zurück. Und Signe folgte ihm mit dem Baby in den Armen zum Haus. Ja, wahrscheinlich hatte sie sich an diesem Tag in Dogie verliebt. Aber noch davor verliebte sie sich in das kleine Mädchen.
Davon träumte Signe. Sie träumte nicht davon, dass ihr kleines Mädchen, das jetzt schon groß war, zehn Jahre alt, wieder im Meer zu verschwinden drohte.
Oh, Signe, wach auf!
74 „Komm zurück!!!“, schrie Mirja. Hinter ihr wurde die Sandbank kleiner und kleiner. In der kurzen Zeit, die ein Frosch braucht, um mit seiner langen Zunge eine Fliege zu schnappen, war sie daran vorbeigesaust. Die Strömung, die sie so zögerlich aus dem Becken getrieben hatte, riss sie nun viel zu schnell hinaus ins tiefe Wasser.
„Haaaaaaalt!!!“, brüllte sie. Sie war schon weit von den Brandungswellen entfernt. Sie war genau da, wo sie nicht hinwollte.
Genau da.
Sie packte das verbliebene Ruder mit beiden Händen und ignorierte den Schmerz.
Eintauchen, ziehen, eintauchen, ziehen, eintauchen, ziehen. Sie versuchte das Boot zu wenden, aber immer, wenn sich der Bug zu drehen begann, stießen die Wellen ihn wieder zurück.
Sie legte sich noch mehr ins Zeug. Eintauchen, ziehen, eintauchen, ziehen, eintauchen. Ihre Arme brannten, ihr Puls raste, so heftig zog und zerrte sie mit dem Ruder.
Aber immer noch entfernte sich das Boot von der Sandbank und dem Ufer dahinter. In wenigen Augenblicken war beides so weit weg, dass Mirja kaum noch die Umrisse der Dächer an der Oyster Ridge Road sehen konnte.
Das ist nicht Teil meines Plans , dachte Mirja. Ganz, ganz, ganz und gar nicht.
Sie zog das Ruder ins Boot. Wassertropfen perlten im Mondlicht und fielen wieder dorthin, wo sie herkamen, in den tiefen, weiten Golf von Mexiko.
Sie verstaute das Ruder, verschränkte die Arme vor der Brust und schob ihre wunden Hände unter die Achseln. Sie biss sich auf die Unterlippe und gab sich alle Mühe, nicht zu weinen.
Und dann, mit ihrer allerkleinsten Stimme, sprach sie den Namen ihrer Mutter aus: „Meggie Marie.“
Bekam sie Antwort? Hörte sie ihren eigenen Namen? Nein.
BF stand auf und drehte sich im Kreis. Dann noch einmal, wobei das Boot heftiger schaukelte. Dann setzte er sich wieder hin. Die viel zu große Schwimmweste schob sich über seine Ohren nach oben.
In diesem Augenblick merkte Mirja, dass Captain weg war.
75 An der weit entfernten Küste saß Mr Beauchamp in seinem Schaukelstuhl und rührte sich kaum. Die Nachtluft schien sich gegen seine Brust zu lehnen.
Wie jede Nacht wünschte er sich, dass er die Zeit zurückdrehen könnte, dass er noch einmal jene Nacht erleben könnte, in der zwei Jungen sich an den Händen gehalten hatten. Zwei Jungen, er selbst und Jack, gerade fünfzehn Jahre alt, die noch das ganze Leben vor sich hatten.
Die Berührung ihrer Hände war einfach. Aber indem sie sich an den Händen hielten, war alles gesagt, was gesagt werden musste.
Als er jetzt auf seiner Veranda saß und nach Atem rang, rieb er seine Hände gegeneinander. Sie kamen ihm leer vor, leerer als je zuvor.
Jeden Tag nach ihrer Begegnung mit dem alten Fischerweib war Henri zum Brunnen
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