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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathi Appelt
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geradewegs auf Jack zu. Jack trat beiseite, um ihr auszuweichen. Zu spät. Mit aller Macht stieß sie ihn nach hinten.
    Jack stolperte rückwärts und wedelte wild mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Henri sprang vor und wollte ihm helfen, aber vergeblich. Jack fiel in den fröhlich plätschernden Springbrunnen. Platsch!
    „Neeeiiiin!“, schrie Jack.
    Im Vorwärtsspringen verlor Henri selbst einen Moment lang die Balance und rutschte aus. Mit dem Kopf schlug er gegen den steinernen Rand des Brunnens. Eine Weile war ihm schwarz vor Augen. Der faulige Fischgestank stach ihm scharf in die Nase. Sein Kopf schmerzte von dem Schlag. Das Fischerweib rückte mit dem Gesicht ganz nah an seins. Dann packte sie ihn am Arm, zog ihn hoch und zwang ihn, ins Wasser zu schauen.
    Henri rieb sich den Hinterkopf. Eine Flammenzunge aus Schmerz zuckte hinter seinen Augen auf. Er blinzelte. Erst konnte er nicht klar sehen. Alles war verschwommen. Er schüttelte den Kopf, blinzelte wieder und versuchte einen klaren Blick zu bekommen. Dann erinnerte er sich an Jack! Wo war er? Er stieß die alte Frau beiseite.
    Dort, im Wasser des Springbrunnens, war Jack. Mit dem Gesicht nach unten trieb er an der Oberfläche.
    Panisch griff Henri nach Jacks Hand, aber sobald er sie berührte, zuckte er entsetzt zurück. Die Hand, die er so gut kannte, war mit Schuppen überzogen. Wo Jacks Beine gewesen waren, zuckte ein langer Fischschwanz. Und über seinen Rücken, vom Nacken bis zur Taille, zog sich eine lange Flosse.
    „Siehst du?“, krächzte die alte Frau. „Er ist nicht von deiner Art, mon .“
    Henri schüttelte wieder den Kopf. Er musste sich irren. Wie war das möglich? Er fühlte eine Beule auf seinem Hinterkopf. Vielleicht hatte der Schlag sein Sehvermögen getrübt. Henri weigerte sich, seinen Augen Glauben zu schenken. Und doch sah er zu, wie sich Jack verwandelte. War dies wirklich Jack? Das konnte nicht sein.
    Und als er hinschaute, da sah er ein …
    „Ungeheuer!“, keuchte er.
    Er holte tief Atem, würgte an seinen eigenen Worten. „Ungeheuer!“, stieß er noch einmal hervor.
    Er kannte die Geschichten, die sich die Matrosen vom Meervolk erzählten, von jenen Kreaturen, die menschliche Gestalt haben, von den Sirenen, die ihre Opfer auf die scharfen Felsen und in die Untiefen locken, wo der Tod auf sie lauert. Verführer waren sie, wirklich und doch nicht wirklich.
    Er hatte nicht geglaubt, dass diese Geschichten wahr sein konnten. Er hatte sie für bloßen Zeitvertreib gehalten, um sich die langen, einsamen Tage auf See zu versüßen. Aber jetzt sah er es mit eigenen Augen: Jack verwandelte sich.
    Ungeheuer!
    Er konnte es nicht ertragen. Die ganze Zeit hatte er gedacht, dass die Zuneigung zwischen ihm und Jack echt war. Aber als er diese Kreatur betrachtete, die im Springbrunnen schwamm, sah er nicht Jack. Er sah die lange Flosse auf dem Rücken, sah die schimmernden Schuppen, die sich von den Schultern über die Arme und den ganzen Oberkörper zogen. Zorn über den Verrat loderte in ihm auf und drehte ihm den Magen um. Er wich weiter zurück.
    Die alte Frau stand neben dem Springbrunnen und lachte. „Jetzt siehst du, dass er nicht von deiner Art ist, mon .“
    „Henri!“
    Er hörte Jack seinen Namen rufen.
    „Warte!“
    Henri zögerte. Wieder hörte er seinen Namen.
    „Henri!“
    Die Stimme kannte er so gut. Sie war ihm lieb und teuer. Jacks Stimme.
    Henri wandte sich ab. Sein Gesicht brannte. Die Scham wand sich um seinen Hals. Wie hatte er nur so naiv sein können? Er hatte geglaubt, dass das, was er und Jack füreinander empfanden, wirklich und wahrhaftig war. Er fing an zu rennen. Seine Beine zitterten, aber er rannte den ganzen Weg bis zum Hafen, rannte über den Steg auf sein Schiff, in dessen Bauch schon die wilden Pferde warteten. Die Pferde der Camargue.
    Er schaute nicht zurück. Nicht an diesem Tag. Er schaute nur zu Boden. Auf seine Füße. Auf das Stroh, mit dem die Ställe ausgelegt waren. Nach unten.
    Am nächsten Morgen legte das Schiff ab. Ein Junge, erst fünfzehn Jahre alt, stand mit gebrochenem Herzen an der Reling. Das Wasser unter ihm gurgelte. Seine Augen brannten von den Tränen, die er die ganze Nacht lang vergossen hatte. Sein Hals tat weh. Er starrte auf den kleinen Hafen und dann aufs offene Meer hinaus. Den Ort, den er verließ, wollte er nicht mehr sehen.
    Aber in der Tiefe seines betrogenen und verwirrten Herzens vernahm er eine leise Stimme. Dreh dich um! , flüsterte sie

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