Das Meer und das Maedchen
komm her!“, kreischte er und dann sauste er im Sturzflug hinab.
Es dauerte nicht lang und sein Bauch war so voll, dass er sich kaum noch in die Luft erheben konnte. In seiner Wassermelonen-Besessenheit hatte er den Stern ganz vergessen.
Das war schon so lange her. Er hatte auch die Frau vergessen. Er hatte sie nie wiedergesehen.
Aber hier, in diesem kleinen Boot, war er sich sicher, dass der Gegenstand an Mirjas Hals derselbe Stern war, den er vor so vielen Jahren aus dem Wasser gefischt hatte.
Er plusterte sein Gefieder auf und schüttelte den Kopf. Das war sein Stern, schön und gut. Aber wo war die Wassermelone?
„Her! Her!“, schrie er Mirja an.
69 BF wäre so gerne mutiger gewesen. Er kauerte im Boot und wünschte sich, er hätte genug Mumm, um das Seil zwischen die Zähne zu nehmen, über Bord zu springen und das Boot zurück zum Anleger zu ziehen. Das war BF s Wunsch.
Aber wie schon gesagt: BF war kein Wasserhund. Er war kein Spaniel, der nichts lieber tut, als den lieben langen Tag ins kühle Nass zu springen. Das war nichts für BF . Im Augenblick konnte er nichts weiter tun, als sich im Boot niederzukauern.
Warum wachte nicht endlich jemand auf?
70 An diesem Morgen hatte Signe an der Spüle gestanden, wo der Dampf des angebrannten Gumbos sie einhüllte. Woher hätte sie, als sie vor fast elf Jahren zu Meggie Marie in den grünen Kombi gestiegen war, wissen sollen, dass sie nach all dieser Zeit immer noch hier sein würde? Sie und der Kombi.
Vor vielen Jahren hatte sie darauf gewartet, dass ihre Großeltern das Haus verließen, um einzukaufen oder Freunde zu besuchen. Sie wusste es nicht mehr. Sie wusste nur, dass sie gehen musste. Aber als sie das Ende der Straße erreicht hatte, war sie umgekehrt. Ein überwältigendes Gefühl von Verlust hatte sich um ihre Schultern gelegt und sie zurückgezogen. Sie brauchte ein Andenken, irgendetwas. Und so war sie zum Haus zurückgeeilt, und das Erste, worauf ihr Blick gefallen war, war die Holzschale. Die Holzschale ihrer Mutter.
Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ihre Mutter sie immer in diese Schale gesetzt und auf dem Küchenboden im Kreis gedreht. Es war eine glückliche Erinnerung.
Signe packte die Schale und rannte. Sie rannte, so schnell sie konnte. Sie rannte durch die Straße, in der sie aufgewachsen war, vorbei an den hohen Bäumen und den ordentlichen Gärten, rannte bis zum Highway. Signe stieg in den grünen Kombi und schaute nicht zurück.
Meggie Marie hatte Signe in Ruhe gelassen. Statt ihr Fragen zu stellen, drehte sie das Radio laut und brauste die Straße entlang. Mit wenigen Worten wie etwa: „Machen wir ’ne kurze Pause?“ Und: „Wie wär’s mit einer Cola?“ Oder: „Komm, wir halten an und betrachten die Sterne“, wurden das Mädchen am Lenkrad und das Mädchen mit der Holzschale Freundinnen.
Seit sieben Jahren warteten Signe und Mirja darauf, dass Meggie Marie zurückkam. Und Signe? Signe hatte Mirja in dem Glauben gelassen, ihre Mutter sei eine Meerjungfrau.
Plötzlich fand sie es unerträglich heiß in der Küche. Mit den Fingern fuhr Signe über die Bruchstellen der Holzschale. Sie war sauber mittendurch gebrochen.
Und sosehr die Schale Signe an ihre Mutter erinnerte, sosehr erinnerte sie sie auch an Meggie Marie. An die Nacht, in der sie verschwunden war. Signes Wangen röteten sich. Sie war immer noch wütend auf Meggie Marie, wütend darauf, dass sie Mirja in so große Gefahr gebracht hatte, wütend, weil sie gegangen war, wütend, weil sie dieses wundervolle Kind, Mirja, nicht erleben wollte.
Signe stellte die beiden Schalenhälften neben die Spüle. Dann legte sie die Arme auf die harte Arbeitsplatte und bettete die Stirn darauf.
Sie hatte nicht um dieses Haus gebeten. Und sie hatte nicht um Mirja gebeten. Beides war ihr von dem Menschen überlassen worden, der ihr das Leben gerettet hatte.
Wenn Signe in Iowa geblieben wäre, wäre sie vermutlich gestorben, ohne jemals die Welt jenseits der Maisfelder und Getreidesilos des Mittleren Westens kennenzulernen – genau wie ihre Mutter. „Ich will nur einmal das Meer sehen, bevor ich sterbe“, hatte Signes Mutter immer gesagt. Sie hatte es nicht geschafft.
Ja, Meggie Marie hatte Signe gerettet und dann hatte sie ihr das Haus und das Mädchen überlassen. Und Signe hatte beides angenommen.
Es war ihr Auftrag, das Letzte, was Meggie Marie zu ihr gesagt hatte. Ihre allerletzten Worte.
71 Während der Mond den Himmel hinaufkletterte, versammelten
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